Emotionale Bedürftigkeit und die Liebe des Herzens

Das Herz erbarmt sich aller Bedürfnisse, der großen wie der kleinen. Trost zu spenden, Liebe zu geben und zu verstehen ist seine Natur. Du mußt es ihm nur erlauben!

Wenn du deinem Herzen nicht erlaubst, sich um deine emotionalen Bedürfnisse zu kümmern - beispielsweise wenn du sie verurteilst oder für nicht der Rede wert hältst -, dann suchen sie ein anderes Herz, das sich ihrer erbarmt. Dann trägst du dein Bedürfnis nach Liebe, Trost und Verständnis zu anderen Menschen, in der Hoffnung, daß sie sich seiner annehmen. Da du dich deiner Bedürftigkeit schämst, verkleidest du sie als Liebe, als Zärtlichkeit, Mitgefühl oder als Anteilnahme am Geschick des anderen. Dieser aber spürt dein Bedürfnis, er fühlt den Hunger unter deinen Gesten oder Worten der Zuwendung, und er antwortet auf ihn entsprechend seiner psychischen Verfassung. Ist er zufrieden und in Geberlaune, so gibt er dir, was du brauchst, oder versucht es jedenfalls; ist er gerade selber emotional hungrig, erschöpft, schlecht gelaunt oder mag dich nicht, so wird er mit Abwehr reagieren. Je weniger dir dieser Vorgang bewußt ist, desto größer ist dein Schmerz, wenn du in verdeckter oder offener Weise zurückgewiesen wirst.

Erlaubst du jedoch deinem Herzen, sich um deine emotionalen Bedürfnisse zu kümmern, dann erhältst du alles, was du brauchst, und alles zur richtigen Zeit. Das Herz stillt jeden Mangel. Sobald du ein Bedürfnis nach Liebe, Trost und Verständnis in dir auftauchen fühlst, wende dich an dein Herz und bitte es, sich darum zu kümmern. Wende dich dann mit ganzer Aufmerksamkeit dir selber zu, sei ganz eins mit dir, mit deinem Körper, deinem Atem, deinen Gefühlen, während du mit deinem Herzen in Fühlung bleibst. Überlasse dem Herzen dann alles weitere. Das ist der Weg zur Erfüllung. Auch hier geht es um Achtung und Achtsamkeit. Du mußt deine Bedürfnisse achten; zu sehr achten, als daß du sie der Laune und Willkür eines anderen auslieferst. Achte dich selbst! Achte dich so sehr, daß du dich mit größter Sorgfalt um dich kümmerst! Und achte deinen Partner, deine Mitmenschen, deine Freunde und Verwandten! Achte sie so sehr, daß du sie mit der Last deiner emotionalen Bedürfnisse verschonst und sie nicht in Situationen hineinzwingst, in denen sie gar nicht anders können, als sich entweder zu verstellen oder ins Unrecht zu setzen! Noch einmal in Großschrift:

ACHTE DICH SELBST
so sehr, daß du dich um deine Bedürfnisse kümmerst,
anstatt sie der Laune und Willkür anderer
auszusetzen, und

ACHTE DEINE MITMENSCHEN
so sehr, dass du sie mit der Last deiner emotionalen Bedürfnisse verschonst und ihnen die Freiheit gewährst, sie selbst zu sein.

Das ist für manche eine harte Lektion; vielleicht die härteste, die sie zu lernen haben. Für diejenigen, die besonders mit diesem Kapitel Probleme haben, steht am Anfang dieser Lektion das Gebot

KÜMMERE DICH UM DEINE BEDÜRFNISSE!
ACHTE SIE!

Wirst du nicht deinem Hund Wasser zu trinken geben, wenn er durstig ist?
Genau das denkst du vielleicht auch und fragst dich, warum nicht dein Partner, der dich doch angeblich liebt, dir die Zuwendung gibt, nach der du verlangst. Er wird das tun oder auch nicht, je nach seinem momentanen Vermögen. Ein Mensch ist kein unerschöpflicher Quell der Liebe. Mal sprudelt und fließt die Liebe in ihm und mal nicht. Willst du davon abhängig sein?

Du wünschst Befreiung? Befreien kannst du dich nur selbst, und zwar durch Bereitschaft zur Befreiung. Bist du bereit? Dann gib dir jetzt, an dieser Stelle, ein Versprechen:

Sobald ein emotionales Bedürfnis in dir auftaucht, wirst du dich deinem Herzen zuwenden und diesem Bedürfnis erlauben, in dein Herz aufgenommen zu werden. Schenke ihm all deine Aufmerksamkeit, Achtung und Zuwendung, bevor du die Aufmerksamkeit anderer forderst! Hier nämlich liegt das Problem: Du selbst verweigerst deinem Bedürfnis die Aufmerksamkeit, die es braucht; bevor sich deine Aufmerksamkeit noch einschalten kann, wendest du dich schon an deinen Partner und verlangst von ihm, daß er dein Bedürfnis erfüllt. Da das ganze aber mehr oder weniger unbewußt vor sich geht, findet dein Verlangen keinen klaren Ausdruck, und dein Partner hat nicht die Möglichkeit, in klarer Weise darauf einzugehen; es sei denn, er ist ein achtsamer Mensch mit einem offenen Herzen und nimmt wahr, was in deinem Innern vor sich geht.

Zuerst also kümmere dich selbst um deine emotionalen Bedürfnisse, indem du ihrer gewahr wirst, sobald sie auftauchen, und sie bewußt empfindest. Nimm sie in dein Herz auf und bitte dein Herz - besser gesagt, bitte das Herz aller Herzen, bitte Gott - um Erfüllung dieser Bedürfnisse. Dieser kleine innere Vorgang kann in Sekundenschnelle geschehen, wenn du dich ernsthaft und entschieden um dich kümmerst. Andere brauchen es nicht wahrzunehmen. 

An der ersten Stelle dieser Lektion steht also ein Verzicht: der Verzicht darauf, andere Menschen verantwortlich zu machen für dein Wohlergehen. Das bedeutet nicht, daß du ein für allemal darauf verzichten mußt, von anderen Liebe, Zuwendung, Trost oder dergleichen zu erhalten; keine Angst: Das Universum hält genug davon für dich bereit.

Der Verzicht bezieht sich vielmehr auf das Verlangen und auf die Erwartung. Erwarte und verlange dein Heil grundsätzlich nicht von anderen. Unterdrücke und verleugne dein Verlangen nicht; im Gegenteil: Widme ihm Aufmerksamkeit; empfinde es mit ganzem Herzen, ganzem Körper, ganzer Seele; sei eins und einverstanden mit ihm; wisse, daß dieses Verlangen das Mittel ist, durch das die göttliche Sehnsucht in dir wirkt und dich formt. Nimm dein Bedürfnis an und dein Verlangen. Sei eins mit ihm. Auch wenn es sich auf eine bestimmte Person und keine andere bezieht: Nimm es als gegeben vom Geliebten selbst.

Ist dein Verlangen nach Nähe und Zuwendung eines bestimmten Menschen sehr mächtig, dann trage es in deinem Herzen und hüte und nähre es. Doch bleibe voller Achtsamkeit in der Gegenwart des betreffenden Menschen; empfinde dein Verlangen mit ganzem Herzen, doch behalte es für dich. Nur in Momenten vollkommener gegenseitiger Offenheit gib es dem anderen preis, um als Gegengeschenk das seine zu empfangen. Niemals aber gib dein Verlangen preis, wenn die Zeit dafür nicht reif ist. Jede Preisgabe im falschen Moment oder der falschen Person gegenüber schwächt dich.

Dein Herz halte weit offen, doch die Geheimnisse deiner Psyche behalte für dich. Wenn du sie hütest und nur mit dem Geliebten teilst, sind sie ein heiliger Schatz, aus dem dir Liebe und die Glückseligkeit innerer Erfüllung wachsen. Gibst du sie aber Menschen preis, werden sie mißverstanden, mißachtet und entweiht.

Du mußt dich achten, wie du eine Königin achten würdest, die in deine Obhut gegeben ist. Wirst du sie der Willkür und dem Gelächter der Menschen aussetzen? Du mußt deiner Königin Diener und Beschützer sein; du mußt sie umhätscheln und versorgen und zugleich mit größter Ehrfurcht behandeln. Die Königin ist deine Seele; ihr irdisches Abbild ist deine Psyche. Deine Psyche ist sozusagen der Leib deiner Königin.

Es ist an dir, die Wunden, die dieser kostbare Leib erlitten hat, zu reinigen und zu pflegen. Es ist an dir, ihn vor weiteren Verwundungen zu schützen. Beleidigter Rückzug nach erfolgter Kränkung ist allerdings kein Schutz. Der Schutz besteht in Achtsamkeit; darin, wach zu sein und deine Bedürfnisse, sobald sie auftauchen, bewußt zur Kenntnis zu nehmen und dich sofort um sie zu kümmern. Übe das mit den Bedürfnissen deines Körpers, deines inneren Kindes, deiner Psyche. Wenn du unbequem sitzt, kümmere dich sofort darum, bequemer zu sitzen. Wenn du Durst hast, trinke sofort etwas. Wenn die Gesellschaft dir zu laut ist, ziehe dich sofort zurück. Wenn du das Bedürfnis nach Zuwendung verspürst, wende dich dir sofort zu. Schiebe nichts auf. Übe dich darin, schnell zu sein. Wenn dein Baby schreit, wie lange wirst du warten, bis du dich um es kümmerst?

Deine Bedürfnisse sind heilig. Ihre Erfüllung ist ein heiliger Akt. Denk nur an den Säugling, der Hunger hat, und an die heilige Stille des Stillens; was könnte heiliger sein? Ebenso verhält es sich mit all deinen Bedürfnissen.

Das Essen ist ein heiliger Akt, ebenso das Trinken; ebenso die sexuelle Vereinigung. Das gleiche gilt für deine emotionalen Bedürfnisse. Sie sind heilig. Deshalb mußt du sie achten und schützen und ehren. Bringe sie nur dann zu einem anderen Menschen, wenn du ihnen Aufmerksamkeit gewidmet hast und dir dein Herz sagt, daß es der richtige Mensch und der richtige Augenblick ist. Ist das nicht der Fall, so beschränke dich darauf, deine Bedürfnisse deinem eigenen Herzen zu überantworten und um Erfüllung zu bitten. Auf welche Weise, wann und durch wen die Erfüllung sich einstellt und ob von innen oder von außen, das überlasse vertrauensvoll dem göttlichen Liebhaber!

Wisse dich immer geliebt, auch wenn niemand da ist, der dich streichelt. Streichelt dich nicht dein Atem? Streichelt dich nicht der Wind? Wohnt nicht der Geliebte in deinem Herzen? Gibt es irgendeine Wonne, die zu vergleichen wäre mit einer Begegnung mit ihm? Gibt es irgendeinen Zauber, der größer wäre als der Zauber des Lebens in jedem Moment? Fühlst du das Blut in deinen Adern kreisen? Ist das nicht Liebe? Ist das nicht Zauber? Ist das nicht Wunder? Fühlst du deinen Atem? Fühlst du den Wind? Fühlst du dein eigenes Leben? Fühlst du das Leben um dich? Spürst du es? Es ist Liebe! Es ist ER! Es ist SEINE Gegenwart! Und ebenso ist Seine Gegenwart in deiner Sehnsucht, in jedem echten Bedürfnis, das du verspürst. Es ist SEIN Verlangen, SEINE Sehnsucht. Du hast teil an Seiner Sehnsucht auf deine Weise; und ebenso teil an der heiligen Kommunion der Erfüllung.

So heilig ist sie, die Erfüllung, daß sie verborgen werden muß wie ein kostbares Geheimnis. Erlebst du sie zu zweit, in den Armen deines Liebsten oder in einem Austausch von Blicken oder Worten, dann empfange die Verzückung in deinem Herzen wie das heilige Brot des Abendmahls und breite den Schleier der Andacht und des Schweigens darüber. Sprich weder mit deinem Liebsten darüber noch mit anderen Menschen; noch nicht einmal mit dir selbst.

Findest du keine Erfüllung in einer Begegnung, dann hast du nicht auf dein Herz geachtet. Erfüllung muß nicht daraus resultieren, daß du das erhältst, was du dir vorgestellt hast; Erfüllung kommt aus der Kommunion, der Vereinigung, der tiefen Begegnung. Begegnung kann auch mit Worten einhergehen, die dir Schmerz verursachen; wenn es Worte der Wahrheit sind und aus tiefstem Herzen gesprochen, so können sie dir, wenn du dein Herz zu öffnen vermagst, Erfüllung geben.

Wenn der König, der in deine Obhut gegeben ist, durstig ist, so wirst du ihm nur das Beste zu trinken geben, nicht wahr? Wenn er Hunger hat, so wirst du ihm nicht irgend etwas vorsetzen; du wirst die Köche, die seine Nahrung zubereiten, mit Sorgfalt auswählen. Genauso sollst du umgehen mit dir selbst. Achtung und Sorgfalt sollst du dir angedeihen lassen. Es ist der König der Könige, den du in dir ehrst. Er hat deinen Körper, deinen Geist, deine Psyche zu seinem Palast erkoren; ist das nicht Grund genug, dich zu achten und zu ehren? Der König der Könige ist die Seele deiner Seele, das Herz deines Herzens, das Ich deines Ichs, das Wesen deines Wesens. Wenn du dich selber nicht achtest, verachtest du Ihn. Dich unwürdig zu fühlen, dein Ich zu verachten, ist falsch verstandene Religiosität. Das bringt dich Gott nicht näher; es entfernt dich von ihm. Denkst du mit ihm und fühlst du mit ihm, so bist du ihm nah; und er, der die Liebe selbst ist, er, der dich schuf aus Liebe und dein Wachstum und Gedeihen, dein Glück und deine höchste Erfüllung ersehnt, er, der in jedem deiner Atemzüge anwesend ist - er sollte dich geringschätzen? Dich unwürdig finden? Dich verachten? Fühlst du, wie sehr ein solches Denken, eine solche Selbstverachtung und -erniedrigung dich von ihm entfernt? Fühlst du den Geliebten in dir trauern, wenn du dieses kostbare Geschenk verachtest - deinen Leib, deinen Geist, deine Psyche? Ein Juwel auf seiner Stirn, eine Blume in seinem Garten, eine Freude in seinem Herzen, eine Erfüllung seiner Sehnsucht sollst du sein. Dazu bist du geschaffen. Eine Königin zu sein, ein König! Nicht ein Bettler.

Wenn ein Mensch seine emotionalen Bedürfnisse an dich heranträgt, damit du sie erfüllst - ob sein Verlangen nun offen geäußert oder verdeckt an dich herantritt -, so achte auf dein Herz. Gib ihm oder gib ihm nicht, was er verlangt, je nachdem, was dein Herz befiehlt.

Hörst du nicht auf dein Herz, so reagierst du auf die verdeckten oder offen geäußerten Forderungen deines Partners oder sonstiger Mitmenschen entsprechend deiner psychischen Verfassung. So kann eine Kette von Reaktionen sich entfalten, die jeden Beteiligten in seinen vorgefaßten Ansichten und seinem Verhaltens- und Gefühlsmuster bestärkt. Hörst du jedoch auf dein Herz, so gibst du der Wahrheit Raum; kein Muster, keine Gewohnheit, kein Vorgefaßtes kann dich beherrschen, wenn die Wahrheit sich äußert. Das Herz weiß immer, was in Wahrheit gebraucht wird; Wärme oder Kälte, Zustimmung oder Ablehnung, Weichheit oder Härte. Die Stimme des Herzens ist die Stimme der Wahrheit. Wenn du dich in einer Situation befindest, in der du verwirrt bist und nicht in der Lage, festzustellen, was dein Herz sagt, so frage dich: Was ist die Wahrheit in dieser Situation?

Die Stimme der Wahrheit ist die Stimme der Liebe; es ist jedoch nicht die Liebe, die du als süße oder freundliche Emotion empfindest; nicht deine persönliche Empfindung ist gemeint, sondern die Liebe, die alles bewegt, die allem zugrundeliegende Liebe Gottes. Sie ist es, die durch dich handelt, wenn du gemäß deiner Wahrheit lebst und handelst.

Verwechsele sie nicht mit deiner persönlichen Emotion ›Liebe‹! Verwechsele sie auch nicht mit Freundlichkeit, Herzlichkeit und der grundsätzlichen Bereitschaft, die Wünsche anderer zu erfüllen! Die Liebe Gottes ist zu groß, als daß du sie erfassen könntest; sie ist die Wahrheit, die allem, was ist, zugrunde liegt. Im Zorn kann sie sich ebenso äußern wie in der Zärtlichkeit, im Ja ebenso wie im Nein.
Handle nur entsprechend deiner eigenen inneren Natur und mache dir keine Sorgen darüber, ob dein Handeln Liebe ausdrückt oder nicht. Lebst du Wahrheit, sprichst du Wahrheit und handelst du entsprechend der Wahrheit deines Herzens, so ist alles, was du tust, Ausdruck und Mittel der Liebe. Gemeint ist hier die Wahrheit deines Herzens und nicht deine psychologische Programmierung. Tritt dein Partner an dich heran mit dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit, und du reagierst darauf mit heftiger Abwehr, dann ist die Abwehr nicht die Wahrheit deines Herzens, sondern die Reaktion deiner Psyche gemäß ihrer Prägung.

Wende dich an dein Herz, wenn dein Partner mit seinem Bedürfnis an dich herantritt. Steckst du schon mitten in deiner Reaktion, so nimm dich zuerst der in dir ausgelösten Gefühle an; nimm sie wahr und schließe sie ins Herz. Dann öffne dein Herz deinem Partner. Nimm das, was ihn bewegt, mit dem Herzen wahr, und handle, wie dein Herz es dir eingibt.

Das heißt, die Situation dem Herzen überantworten.

Safi Nidiaye "Die Stimme des Herzens", Köln, 2000