Der Schönheit standhalten

Er warf das tote Tier in eine chinesische Vase, die hinter seinem Sessel stand, und lehnte das Gewehr an die Wand. "Nun seien Sie kein stummer Fisch, sprechen Sie zu mir! Klären Sie mich auf, befriedigen Sie meine Neugier, erzählen Sie von der seltsamen Welt, aus der Sie kommen! Besteht es noch, das gute, alte Menschengeschlecht? Oder haben die Gespenster des Unwirklichen es schon verschlungen? Die Geister jenes heraufdämmernden Reiches der Simulation und Künstlichkeit, in dem nur der farbige Abglanz einer aufgegebenen Wirklichkeit, eines vergessenen Ursprungs, die Reproduktion der Reproduktion besteht, und alles Echte, Große und Ursprüngliche im Mistkübel der Gier, der Beliebigkeit und Verblödung landet und der Mensch, ein armseliger Homunkulus, ausgeweidet und entbeint, sich nur mehr rasend und sinnlos im Kreise dreht?
Nebenbei bemerkt, haben Sie einen ganz miserablen Schneider, junger Freund, Sie sollten sich unbedingt einen neuen suchen!"
Der Schreck, der mir durch den Gewehrschuss in die Glieder gefahren war, hatte meine Aufmerksamkeit für einen Augenblick wiederhergestellt, aber erneut musste ich nach der schönen Marquise sehen, meine Augen tasteten ihr Gesicht ab, die schmale, wohlgeformte Nase, den schönen Mund, der an die ausgebreiteten Schwingen eines nächtlichen Vogels erinnerte, und plötzlich war mir, als blinzelte sie mit einem Auge ...
"Oh, ich sehe, Sie sind ganz versunken in das Bildnis unserer lieben Marie-Élisabeth!" sagte da Amadé, und seine Stimme hatte einen hämischen Unterton.
"Nun, sie war eine sehr anziehende Frau, und Sie sind gewiss nicht der erste, der dies bemerkt. Hören Sie auf mich, und lassen Sie ab von ihr, machen Sie sich nicht unglücklich!
Gehen Sie zurück in Ihr Zimmer!
Mit welcher Kraft wollen Sie, der Sie aus dieser fellachischen, dem Geld und Stumpfsinn wahnhaft verfallenen, auf alles Erhabene verzichtenden Welt stammen, mit welcher Kraft also wollen Sie der Macht wahrer Schönheit standhalten? ..." Sie lächelte mich an!
Sie bewegte ihren Arm und nahm ihn von der Tastatur!
Sie schüttelte ihren Kopf, und ich war nahe daran, vom Stuhl zu sinken.
Tonlos sagte ich einen Satz, der gewiss nicht zum besten gehörte, was ich in meinem Leben von mir gegeben habe. "Mit der Kraft der Liebe, Monsieur!"

Ulrich Tukur, Die Spieluhr, Berlin 2013, S. 68f

Wir stricken unsere Realität

„Opa, kann ich dich fragen, warum ich dich jeden Nachmittag auf dieser Bank auf dem Platz sitzen sehe und du in Richtung Sonne lächelst?“
Der alte Mann senkte langsam den Kopf, hielt kurz inne, sah ihn mit großer Zärtlichkeit an und antwortete mit großem Frieden: "Ich stricke".
Der Junge lächelte. "Wie strickt man ohne Wolle und Nadeln Großvater?" "Ich stricke Realitäten", sagte der alte Mann.
"Es mag so aussehen, als würde ich hier nichts tun", fuhr er fort, "aber indem ich ruhig bleibe, lasse ich mein Herz eine harmonische Umgebung schaffen. Ich segne auch alle, die an diesem Platz vorbei kommen, mit meinen Gedanken und Absichten, damit sie den besten Tag haben. So stricke ich. Ich grüße sie immer mit Liebe, ich lächle sie offen an, und wenn ich sie traurig sehe, hebe ich meinen Stock und sage: Komm schon, das wird schon wieder. Ich bitte auch die Vögel mir dabei zu helfen, ihnen Kraft durch ihren Gesang zu geben, weil ihre wunderbaren Klänge revitalisieren und heilen". Der Junge war absolut erstaunt. Er konnte nicht glauben, was er hörte.
"Bei dieser leuchtenden Aufgabe, der Erschaffung einer harmonischen Umgebungen beizutragen, bin ich nicht alleine", bemerkte der Alte. Er breitete seine Arme aus und rief:
„Sieh dir die Schönheit an, die die Bäume ausstrahlen. Rieche den wundervollen Duft, den die Blumen mit uns teilen, ohne etwas dafür zu verlangen. Schau dir die unermüdliche Arbeit dieser Bienen an und sieh, wie frei die Hunde spielen. Fühle, wie der Wind dich streichelt. Die Existenz strickt auch, auf ihre Art. In meinem Fall stricke ich gerne mit Lichtfäden, deshalb öffne ich jeden Nachmittag mein Herz, damit die Sonnenstrahlen eintreten, mich streicheln und sich zusammen mit meinen reinsten Gefühlen auf dem Boden verankern, damit Mutter Erde spürt, wie sehr ich sie liebe".
Schließlich betonte der alte Mann: „Egal wie alt wir sind, wir alle können dazu beitragen, den Stoff einer bewussteren, sensibleren, solidarischen und menschlicheren Welt zu weben, indem wir unsere besten Absichten über die Grenzen hinaus reisen lassen. Wir können auch viel Liebe ausstrahlen, damit sich Wunden schließen, Herzen öffnen und jeder sein maximales Potenzial erreicht, um die transformierende Kraft einfacher Dinge zu entdecken".
Die Augen des Jungen begannen zu leuchten. Und in diesem Moment flüsterte der Junge dankbar: „Ich gehe nach Hause Opa. Ich muss das alles meiner Mutter erzählen, denn sie, die zu den Menschen gehört, die ich am meisten liebe auf dieser Welt, strickt immer noch mit Wolle und Nadel.

Anonymus