Psychologischer Gehalt neoliberaler Wirtschaftstheorie und gesellschaftspolitischer Diskurse

Denkgifte - Psychologischer Gehalt neoliberaler Wirtschaftstheorie und gesellschaftspolitischer Diskurse von Thomas Gerlach, Einleitung:

"Die Schwachen müssen sich verändern oder sterben“. Das forderte der Daimler Chrysler Vorsitzende Robert J. Eaton im Juli 1999 bei einem Kolloquium der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft mit dem Motto "Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert". Nach dem "Ende der Geschichte" schafft sich also das freie Unternehmertum eine Welt nach seinem Bilde. Die Schwachen sind alle Menschen, die keine Geld- oder Produktivvermögen besitzen, und alle Völker, die sich dem internationalen Kapital noch nicht "geöffnet" haben. Denen will "Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert" nur die Unterwerfung unter sein Diktat oder den Tod durch Hunger oder Krieg zugestehen.

Für die noch Lebenden hält die kapitalistische Realität indessen Befindlichkeiten bereit, die von psychologischem Interesse sind: Zunehmende Sinn-und Perspektivlosigkeit, Existenz- und Zukunftsängste, Vereinsamung und Verzweiflung.

Den Hintergrund bildet nichts weniger als die globale Krise: In vielen in Unterentwicklung gehaltenen Ländern der südlichen Hemisphäre herrscht weiterhin entsetzliches Elend. Auch in westliche Metropolen und vormals sozialistische Länder sind Armut und Massenarbeitslosigkeit zurückgekehrt.

Bereits jetzt verheerende Umweltschäden werden nicht beseitigt, sondern vergrößert, die natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen ernsthaft gefährdet.

Soziale und demokratische Rechte, einst von Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen erkämpft, werden im Zuge weltweiter "Deregulierung" außer Kraft gesetzt.

Mit der Wiederkehr nationalistischer, teils gar neofaschistischer Bewegungen und dem Aufstieg unverfasster, keiner demokratischen Kontrolle unterliegender Mächte (wie der europäischen Zentralbank) wächst die Gefahr einer autoritären Formierung von Staat und Gesellschaft.

Vor dem Hintergrund einer heraufziehenden Weltwirtschaftskrise werden militärische Konflikte wieder zum Mittel der Wahl politischer Akteure, die den ökonomischen Verdrängungs-und Vernichtungswettbewerb zur globalen Maxime erhoben haben.

Auf der politisch-ökonomischen Ebene geschieht der Umbruch des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus der Nachkriegszeit zu einem neoliberalen Modell. Den programmatischen Kern dieses Umburchs bildet eine Behauptung herrschender Eliten: Die wirtschaftliche Lage sei nur durch weltweiten Freihandel, Privatisierung allen öffentlichen Eigentums, Abschaffung von Schutzbestimmungen und Entfesselung einer rücksichtslosen Konkurrenz in allen Lebensbereichen zu bessern.

"Der Markt wird es richten", lautet die Parole, obwohl sie sich an der Realität blamiert. In Wirklichkeit reproduziert die vorgebliche Lösung die Ausgangsprobleme in potenzierter Form.

Auch die in jüngerer Zeit in fast allen europäischen Ländern erfolgte Abwahl konservativer Regierungen als Protagonisten dieses Projekts scheint daran wenig zu ändern. Die als "neue Mitte" auftretenden sozialdemokratischen Nachfolger setzen - ihre Lieblingsvokabel "Kontinuität" lässt es ahnen - die neoliberale Politik bruchlos fort.

Die These "mehr Beschäftigung durch höhere Profitanreize" entlarvt sich bei ins uferlose wuchernder Gewinne von Banken und Konzernen bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit als bloße Propaganda einer Politik, die zu gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten gelangen will allein über mehr Luxuskonsum und höhere, mit aggressiven Außenhandelsstrategien erzielten Exportgewinne.

Hinzu kommt die offene Sozialstaats-, Gewerkschafts- und Demokratiefeindlichkeit und eine zynische Gleichgültigkeit gegenüber allen, die im glorifizierten "Wettbewerb" nicht mithalten. Sie lassen keinen Zweifel am asozialen Charakter neoliberaler Vorhaben: "Heute befindet sich der Kapitalismus […] zum ersten Mal in einem Zustand, in dem die Kapitallogik genauso rein und unverfälscht funktioniert, wie Marx das im Kapital beschrieben hat. Zum ersten Mal ist die Kapitallogik von allen Beißhemmungen befreit, die ihr lange von innen und außen auferlegt waren. In der ganzen bisherigen Geschichte des Kapitalismus ging es doch im Grunde darum, ihm solche Beißhemmungen aufzuzwingen" (Negt, 1997, S. 38, Hervorhebung T.G.).

Auch ein solchermaßen enthemmter Kapitalismus, der sich "aller historischer Kostüme entkleidet" hat (Scherer, 1996, S. 53), tritt in spezifischen Formen auf: Als "Kasinokapitalismus" mit verselbständigten, den Niedergang der Realökonomie betreibenden Finanzmärkten, als "ShareholderValueKapitalismus", dessen einzige Maxime die Aktionärsrendite ist, als neoliberaler Kapitalismus eben, befreit von den "Beißhemmungen" demokratischer und sozialer Ansätze.

Auf der Seite der gesellschaftlichen Subjekte steht dem eine verunsicherte, aber passive Öffentlichkeit gegenüber. Trotz Krise und Perspektivlosigkeit regt sich kaum Widerstand gegen die Brutalität zeitgenössischer Politikprojekte.

Deren Durchsetzung ging ein schleichender, wenngleich keineswegs zufälliger Bewusstseinswandel voraus, ein "die Gesellschaft durchziehender Resignationsprozess […]. Es mutet schon gespenstisch an, wie es der radikale Neoliberalismus fertigbringt, seine Prinzipien in den Seelen zu verankern, so dass viele seiner Opfer selbst dann noch für ein Wirtschaftswachstum mitfiebern, wenn dessen Gewinne zu ihren Lasten nur einer Wohlstandsschicht zufließen. […] Die Benachteiligten fühlen sich mitverantwortlich, das von oben bewirkte Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu verschleiern, indem sie die steigenden Unternehmensgewinne und die explodierenden Dividenden, von denen für sie nichts abfällt, in einer selbstentfremdenden Identifizierung mit den Mächtigen hinnehmen" (N.N., 1998).

Damit sind die psychologischen Aspekte einer resignativen Haltung gegenüber schlechten Lebensverhältnissen angesprochen. Leider sind sie selten Gegenstand einschlägiger Forschung.

Die traditionelle Psychologie der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit gänzlich sprachlos gegenüber. Meldet Sie sich zu Wort ist ihr diese resignative Haltung nicht Problem, sondern Faktizität. Anpassung gilt ihr als "erwachsen", Kritik als "infantil". Statt die Vermitteltheit individueller Lebensschwierigkeiten aufzuklären, betreibt sie die Psychologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung sind ihr keine Skandale, die nach Abhilfe verlangenden, sondern fraglose Gegebenheiten, die von den Betroffenen "bewältigt" werden müssen. Freilich ohne, dass diese über die ihrer Situation zugrundeliegenden Bedingungen verfügen könnten. Das hätte nämlich eine tatsächliche Bewältigung zur notwendigen Voraussetzung. Statt dessen werden die realen Widersprüche in Probleme mangelhafter Individuen umgedeutet, denen die Fähigkeit zur "Selbstbehauptung" fehlt und die man ihnen in "Trainingskursen" vermitteln will.

Dabei kommt den Experten des individualbiographischen Röhrenblicks der Kern kaum zu Bewusstsein: Ihr gesellschaftspolitischer Fatalismus könnte Teil der eigenen Vermeidung von Konflikten sein, Konflikten mit herrschenden Instanzen, Parteilichkeit und eingreifendem Denken sein. Damit bleib die wesentliche psychologischen Aufgabe Erkennens unerledigt, nämlich das Erkennen verborgener Ursachen des menschlichen Leidens. Schlimmstenfalls werden diese Ursachen noch befestigt.

Als Alternative zum psychologischen Hauptstrom versteht sich seit dem Ende der sechziger Jahre die Kritische Psychologie. Sie  konzeptualisiert die menschliche Subjektivität als Aspekt des materiellen Lebenszusammenhangs. Der Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit fasst das Sich-Einrichten in schlechten Bedingungen. Demnach erscheint den Menschen ein widersprüchliches, letztlich selbstschädigendes Arrangement mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen als einzig mögliche Art der Lebensführung.

Weitgehend ungenutzt bleibt die Handlungsalternative des politischen Zusammenschlusses zur Gewinnung gemeinsamer Verfügung über die Lebensbedingungen. Das Wissen um die eigene Beteiligung an der Aufrechterhaltung der allgemeinen, damit auch der eigenen Unterdrückung und der Unterdrückung anderer wird verdrängt.

In der 'Grundlegung der Psychologie' (1983) analysiert Klaus Holzkamp formationsspezifische Erscheinungsformen des Psychischen in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese befand sich zum damaligen Zeitpunkt allerdings noch in einem sozialstaatlich reformierten Zustand. Damals konnten Verbesserungen der Lebensverhältnisse erreicht werden, unter dem Druck von Arbeiterbewegung und Gewerkschaften und der politischen Konkurrenz der sozialistischen Länder. Doch auch damals waren die Funktionsprinzipien der kapitalistischen Produktionsweise als einem Ausbeutungs-, Herrschafts- und Gewaltverhältnis keineswegs außer Kraft gesetzt.

Heute ist nach den Veränderungen objektiver und subjektiver Faktoren zu fragen, innerhalb der neuen Bedingungen, deren Gesamtheit als neoliberaler Kapitalismus bezeichnet wird.

In der einschlägigen Literatur wird neben dem "Neoliberalismus" mitunter auch der "Neokonservatismus" verhandelt. Ich erachte eine Unterscheidung zwischen beiden Begriffen hier als unwichtig. Der klassische Konservatismus befand sich in Gegnerschaft zum Liberalismus. Der heutige Neokonservatismus tritt mit neoliberalen Ökonomiekonzepten auf. Beide Begriffe gelten daher als synonym. Neoliberalismus kann als politisches Projekt kapitalistischer Eliten verstanden werden. Durchgesetzt werden soll die unbeschränkte Autonomie der Besitzer von Geld- und Produktivvermögen gegen die Lebensinteressen der Bevölkerung.

**Eine Koalition aus transnationalen Konzernen, Finanzkapital und oberer Mittelschicht hat mit regierungsamtlicher Hilfe den sozialstaatlichen Klassenkompromiss aufgekündigt und betreibt mit Lohnsenkungen, dem Abbau von Sozialleistungen und Steuergeschenken für Konzerne und Vermögende eine großangelegte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben.**

Es ist die Absage an einen bescheidenen Massenwohlstand, womit ein wesentliches Instrument zur Herstellung politischer Loyalität aufgegeben wurde.

Im sozialstaatlichen Kapitalismus schienen die Verwertungsinteressen des Kapitals auch die Lebensansprüche der Menschen zu gewährleisten. Lohnerhöhungen und Sozialleistungen sicherten die Funktionalität restriktiver Handlungsfähigkeit ab. Den "kleinen Leuten" sei es "noch nie so gut wie heute gegangen", wurde Kapitalismuskritikern entgegengehalten - verbunden mit der Forderung, sich mit dem Erreichten doch zufrieden zu geben.

Angesichts zunehmend schlechterer Lebenschancen werden derart optimistische Sichtweisen seltener. Damit erscheint aus herrschender Sicht der Einsatz außerwirtschaftlicher Faktoren erforderlich, um einer potentiellen Legitimationskrise entgegenzuwirken:

"Der Neoliberalismus (ist) darauf angewiesen, die Treue zu seiner Politik und zum System durch sogenannte Sinnstiftung, Betonung von Identität und Identifizierung, also durch nachdrückliche Bewusstseinsbildung zu gewährleisten" (Schui, 1997, S. 31, Hervorhebung T.G.).

Solche Bestrebungen und ihre psychologierelevanten Ergebnisse sind das Thema dieser Arbeit. Es wird davon ausgegangen, dass die ideologische Bearbeitung der Menschen nicht allein auf kognitive Prozesse abzielt (wie der Ausdruck 'Bewusstseinsbildung' suggeriert). Es sind vielmehr alle psychischen Funktionen Gegenstand interessengeleiteter Beeinflussungsversuche.

**Im Zuge der Etablierung neoliberaler Verhältnisse kommt es zu typischen Veränderungen von Denkweisen, Befindlichkeiten und Beziehungsformen: "Es ist ein System, das die Menschen zur Einsamkeit, zur Angst, zur Hoffnungslosigkeit und zu Beklemmungen verurteilt. Es zerstört die solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen. Es zwingt uns, die anderen als Feinde zu betrachten. Es überzeugt uns, dass das Leben eine Rennbahn ist, auf der es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt. Es ist ein System, das die Seele vergiftet“** (Galeano, 1997).

Die Vorstellung einer systematisch vergifteten Psyche erscheint angesichts verheerender Gegenwartserscheinungen treffend: In den reichsten Ländern der Welt werden Millionen Menschen in eine unwürdige Armutsexistenz gedrängt und kein Sturm der Entrüstung erhebt sich.

Nur wenige Jahrzehnte nach der Niederwerfung des Faschismus breitet sich rechte Gewalt gegen Minderheiten aus und die Mehrheit schweigt.

Das Land, das innerhalb eines Jahrhunderts die Katastrophen gleich zweier Weltkriege herbeigeführt hat, überfällt schon wieder andere Völker, ohne im Inneren auf wirksame Gegenwehr zu stoßen.

"Es ist, als würde sich ein Gift in alle Schichten der Gesellschaft fressen, nur wenige erweisen sich als resistent" (Brombacher, 1998, S. 68).

Während der Arbeit an diesem Text erschien das Buch 'Gefährliche Erbschaften' von Margret und Siegfried Jäger. Sie wenden die Sprachkritik Klemperers auf die heutige Rechtsentwicklung an. Auch Klemperer benutzte eine Giftmetaphorik zur Beschreibung psychischer Prozesse, die mit der spezifischen Sprache des Faschismus in Verbindung standen: "Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut", "Das Gift ist überall, im Trinkwasser der Lingua Tertii Imperii wird es verschleppt, niemand bleibt davon verschont" (Jäger & Jäger, 1999, S. 14).

**Den Denkgiften der neoliberalen Ideologie ist eine klare Funktion zugedacht. Sie verwandelt menschliche Solidarität profitträchtig in Unterordnung nach oben und Rücksichtslosigkeit nach unten. Das Denkgift der Schutzgelderpressung mit Standortparolen treibt ganze Belegschaften, ja ganze Volkswirtschaften in ökonomische Unterbietungswettläufe. Das Denkgift der "Spardebatten" dient der Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme und die perfide Rede vom "Sozialmissbrauch" verweist auf die angeblich wahren Schuldigen der Krise: Nicht steuerhinterziehende Millionäre und Börsenspekulanten ruinieren das Gemeinwesen, nein, die Opfer selbst sind es, die Arbeitslosen, die Kranken, die Sozialhilfeempfänger, die als "Sozialschmarotzer", "Bodensatz" und "Wohlstandsmüll" Deutschlands Untergang heraufbeschwören. Ihnen und allen anderen soll im neoliberalen Diskurs klargemacht werden, dass der "Standort Deutschland" nur mit "tiefen Einschnitten" und einem "Mentalitätswandel" zu retten ist: "Wenn der Staat nicht mehr sein Füllhorn über die Menschen ausgießen darf, muss man sie an ihre 'Eigenverantwortung' erinnern.**

Dies ist freilich nicht so zu verstehen, dass die Menschen ihre Lebensverhältnisse eigenständig in die Hand nehmen und in freiwilliger Verbindung mit ihren Mitmenschen […] etwas für sich, die Gesellschaft und ihre Nachkommen Nützliches unternehmen, dabei auch noch schonend mit ihrer Umwelt umgehen, und auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zufriedenstellend gestalten.

Nein, die Ideologen des Neokonservatismus interpretieren die 'Kultur der Selbständigkeit' etwas anders: Männer und Frauen sollen […] 'schlanker' und 'fitter' werden, d.h. mehr leisten in mehr Arbeitszeit […]; dafür sich mit weniger Geld und Ansprüchen begnügen, sich den Bedingungen des Arbeitsmarktes flexibel anpassen, sich eventuell [vor allem Frauen] mit ehrenamtlichen Tätigkeiten anfreunden und als Dienstpersonal bei 'Besserverdienenden' unterkommen, mehrere 'Berufe' zur gleichen Zeit bzw. während ihres Arbeitslebens ausüben und überhaupt das Leben als eine nützliche Angelegenheit für das Kapital betrachten, damit dieses Kapital große Dinge auf der Welt unternehmen kann.

Da diese Unterstellung der Subjekte aber nicht als solche ausgedrückt werden kann, übersetzt der Neokonservatismus das Ganze in Ansprüche der Nation an den Einzelnen, damit seine Unterstellung und das Erbringen von Opfern einen höheren Sinn erhält. Die Gemeinschaft der Staatsbürger wird dann in 'guter' deutscher Tradition völkisch unterlegt, die es erlaubt, den Status des Deutschseins mit allerlei Vorteilen zu verbinden, die man dann ausgewählten Menschen gnadenlos vorenthalten kann" (Kellersohn, 1998, S. 8 f.).

So sollen die Menschen nach dem Willen herrschender Eliten sein: "Schlank", "fit" und devot. Einschlägige Untersuchungen zu diesem Thema analysieren Politikerreden, Parteiprogramme, Medienberichte, politisches Material. Dabei wird die objektive Seite stark betont und die subjektive auch oft mitbehandelt, aber kaum systematisch dargestellt.

Die Indoktrinierung der Menschen mit neoliberaler Ideologie wird zwar beschrieben als "symbolische Einprägung […], die Journalisten und einfache Bürger wiederholen lässt, was von bestimmten Intellektuellen ganz gezielt in Umlauf gebracht" und es wird gefragt "wie diese Weltsicht erzeugt, verbreitet und eingetrichtert wird" (Bourdieu, 1998a, S. 39), die zugehörigen psychologischen Prozesse werden jedoch eher selten analysiert.

Hier werden in einer theoretischen Studie die veränderten Lebensbedingungen dargestellt und dann in einer psychologischen Bedeutungsanalyse Theorie und Diskurs des neoliberalen Kapitalismus untersucht.

Mit Bezug auf das Konzept der Kritischen Psychologie werden veränderte Erscheinungsformen des Subjektiven unter Einbeziehung qualitativer Interviews skizziert. In ihnen wurde versucht, mit Personen in verschiedenen Lebenslagen über ihre Sicht des neoliberalen Kapitalismus ins Gespräch zu kommen.

Dabei geht es auch darum, einen Beitrag zu einer subjektwissenschaftlichen Aktualempirie zu leisten, die Aussagen *für* Menschen erarbeitet gegenüber einer kontrollwissenschaftlichen Forschungspraxis, die Aussagen *über* Menschen formuliert.

Zu diesem Zweck wurde den befragten Personen im Zuge eines kommunikativen Auswertungsverfahrens der von ihnen produzierte Text vorgelegt und eine vorläufige Interpretation diskutiert, die bestätigt oder verworfen werden konnte.

Auf grundsätzlicher Ebene ist mir, Thomas Gerlach, daran gelegen, eine theoretische und aktualempirische Analyse gegenwärtiger Denkformen und Befindlichkeiten mit dem Instrumentarium der Kritischen Psychologie durchzuführen, die ich für einen wichtigen und sinnvollen psychologischen Ansatz halte. Leider bleibt dessen Erkenntnispotential zum allgemeinen Nachteil unausgeschöpft, infolge ihrer Geringschätzung und Ausgrenzung durch die etablierte Psychologie .

Oppositionelle Diskurse in der Psychologie sind weder Selbstzweck noch intellektueller Kleinkrieg um akademische "Wahrheiten", sondern verkörpern die Forderung, am Anspruch menschlicher Emanzipation auch in widrigen Zeiten festzuhalten. So ist auch die Kritik am psychologischen Hauptstrom keine scholastische, sondern denkender Widerstand gegen die Monopolisierung psychologischer Erkenntnisfähigkeit durch rein affirmative und herrschaftssichernde Theorie- und Praxisformen.

Mit der Entfremdungsforschung bemüht sich eine weitere Arbeitsrichtung um die Aufklärung psychischer Prozesse in ihrer Bezogenheit auf kapitalismusspezifische Lebensverhältnisse.

Zurek plädiert angesichts der "deutschen Betonburg, wo soziale Bewegung nur geheuchelt und durch Kapital- und Geldbewegung ersetzt wird" für eine Aktualisierung des Versuchs, "die vielfältigen Phänomene der gesellschaftlichen Starre, Pseudopolitik und Fixierung auf den IstZustand mit der Entfremdungstheorie zu konfrontieren und in der konkreten Entfremdungsanalyse (...) wieder freizubekommen" (1998, S. 6) und wirft nachfolgend die Frage auf, ob "eine auf den Stand gebrachte Entfremdungstheorie eine Antwort auf die tiefe gesellschaftliche und psychosoziale Krise (geben kann)" (ebd.).

Der Mensch-Welt-Zusammenhang ist als Folge von Herrschaftsausübung zerrissen. Das thematisiert der Begriff der Entfremdung. Er meint auch eine Verkehrung: menschliche Produkte wurden zu verselbständigten Mächten, die ihren Produzenten feindlich gegenübertreten und sie beherrschen. Theoretisch befindet sich der Entfremdungsbegriff auf der Ebene der Vermittlung von Subjekt und Welt, ist streng genommen ein gesellschaftstheoretischer Begriff, der jedoch eine Vielzahl psychologisch relevanter Aspekte aufweist.

Im Kapitalismus verdichten sich einzelne Entfremdungsprozesse zu einem Zustand allgemeiner Entfremdung, der alle Lebensbereiche erfasst und den Menschen in den gesellschaftlichen Institutionen entgegentritt. Menschen können ihre individuelle Existenz nur innerhalb entfremdeter Formen reproduzieren und diese entfremdenden Formen damit aufrechterhalten. Allerdings ist es nicht ausweglos, diese entfremdenden Formen zu unterstellen.  Sind sie doch prinzipiell in der Lage, ein Bewusstsein der eigenen Entfremdung und Möglichkeiten zu entwickeln, sogar zu ihrer Überwindung. Hier sind die Umstände bedeutend, die den Unterschied zwischen Entfremdung und unmittelbarer Herrschaftsausübung bilden.

Der Entfremdungsprozess besteht aus zwei Teilen: Einerseits aus dem Vorgang der Zerreißung, Verkehrung oder Verdinglichung von Lebenszusammenhängen und andererseits verschleiert er sich selbst. Entfremdung tarnt sich mit dem Schein von Normalität und wird dadurch unkenntlich.

**Nur indem sie sich als etwas anderes präsentieren als sie sind, können Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse dauerhaft betrieben werden, ohne Widerstand hervorzurufen.**

Was Kagarlitzky zu osteuropäischen Realitäten feststellt, ist leicht zu verallgemeinern: "Eine Gesellschaft, die in der Katastrophe lebt, [kann] deren Dimension kaum erkennen. Nehmen wir den Sowjetmenschen von vor zehn Jahren und zeigen wir ihm das Bild der heutigen Gesellschaft: Die zerfallene Sowjetunion, Gewalt, Korruption, soziale Ungerechtigkeit und so weiter. Er würde sich an den Kopf fassen […] und sagen: Das ist eine Katastrophe, das ist ja furchtbar. Nur, wäre seinerzeit eine solche Prognose vorgelegt worden, hätte sie keiner glauben wollen. […] Jetzt leben dieselben Menschen in eben dieser Realität, sie haben sich angepasst und merken gar nicht mehr wie katastrophal es ist" (Kagarlitzki, 1997, S. 14).

Zu dieser prozesshaften Seite der Entfremdungsverschleierung gehört noch ihr von Interessen geleiteter Ursprung. Besonders deutlich wird er in der herrschaftsideologischen Strategie "Bewusstseins- statt Besitzstandsbildung“. Diese „Bewusstseinsbildung“ versucht, die Menschen den neoliberal veränderten Bedingungen anzupassen, *ohne* dass sie sich dessen bewusst werden.

Für die von Zurek vorgeschlagene Anwendung einer aktualisierten Entfremdungstheorie zur Aufklärung gegenwärtiger Krisenphänomeme halte ich folgende Prinzipien für wichtig:
1. Es kommt zunächst darauf an, den ökonomischen Kern der Entfremdung in seiner zeithistorischen Ausprägung bloßzulegen und darin die fremde Macht als reale Macht zu erkennen, deren Wirken von erheblichem Einfluss auf Denkformen und Befindlichkeiten ist.
2. Dann sind die ideologischen Formen zu untersuchen, die dieses Wirken noch verstärken, es aber zugleich verschleiern und seine Herkunft unkenntlich machen oder es zwar einräumen, aber zugleich legitimieren, als "alternativlos" mystifizieren usw.
3. Schließlich gilt es, die Erscheinungsformen entfremdeter Subjektivität in ihrer Bezogenheit auf die entfremdeten Verhältnisse zu analysieren. "Die Mystifikation der eigenen Existenzbedingungen ist der exemplarische Ausdruck einer fremdbestimmten Lebensgestaltung und eines bedrückenden Ohnmachtsgefühls. Ohnmacht und Mystifikation sind die beiden Seiten (...) des Systems der sozialen Entfremdung" (Seppmann, 1995, S. 133).

Die damit erhobenen Forderungen an eine psychologische Entfremdungstheorie entsprechen nun weitgehend der Vorgehensweise der Kritischen Psychologie. Jetzt stellt sich die Frage nach dem Verhältnis beider Ansätze.

Da der Entfremdungsbegriff in kritisch-psychologischen Arbeiten bislang kaum verwendet wurde, die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen aber auch eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes nahelegen, soll untersucht werden, ob der Begriff der Entfremdung hier eine geeignete Ergänzung darstellen könnte.

Schließlich ist als wesentliche Motivationsgrundlage der Arbeit die Absicht zu nennen: Es soll Selbstverständigung erlangt werden über gesellschaftliche und psychologische Realitäten, die an allen Ecken und Enden nach radikalem Erkenntnisstreben verlangen, gerade weil die Macht des Faktischen den Blick auf Ungeheuerlichkeiten und Ungeheuer beharrlich trübt.

Wenn die derzeitigen Kräfteverhältnisse schon nicht ausreichen, diese zu vertreiben, will ich wenigstens etwas Licht in ihr finsteres Treiben bringen und einige der täglich verbreiteten Lügen aufdecken, die so selten in Zweifel gezogen werden, wiewohl man ahnt, dass nichts als das Recht des Stärkeren und die Macht der Reichen und Superreichen dahintersteht, von "Experten" als "Sachzwang" mystifiziert und mit all dem Verleugneten und Verdrängten als Kehrseite: Dem Elend in der südlichen Hemisphäre, der millionenfachen Perspektivlosigkeit hierzulande und am Ende deren "Globalisierung" als Entzivilisierung und Krieg.

"Der Versuch, die Macht des 'falschen Bewusstseins zu brechen ist auch eine Frage des Mutes: Für den, der Herrschaft ausübt, ist Opposition das, was ihn zur Lüge provoziert; wenn aber die Wahrheit fällt, stürzt sie auf den Schwächeren" (Brückner, 1968, S. 170).

In diesem Sinne sehe ich eine wichtige Aufgabe: Es gilt Einzelheiten zu Tage zu fördern über den Zynismus herrschender Eliten, über die Willfährigkeit der Intellektuellen, über die Lähmung und Ratlosigkeit derer, die derzeit noch sehr viel mehr zu verlieren haben als ihre Ketten - auch wenn diese noch weit entfernt sind von einer gewichtigen Einheit: Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller.



Zur Besseren Lesbarkeit habe ich sprachliche Veränderungen vorgenommen, in behutsamer Absicht, die Aussagen nicht zu verändern.

Den Originaltext der Einleitung und die ganze Arbeit befindet sich hier:

http://www.kritische-psychologie.de/files/tg2000a.pdf