Gustav Landauer - Die Revolution

Wir kennen überhaupt nur eine Revolution, so meine ich ein ganz konkretes Vorkommnis unserer eigenen Geschichte, ein Vorkommnis, in dem wir noch selbst mitten drinstehen, und ich meine, dass wir nicht imstande sind, über einen Vorfall, in dem wir noch selbst, wenn auch nur als stumme Hunde, agieren, Wissenschaft zu treiben. Denn alle wissenschaftliche Behandlung braucht doch wohl einen Standort außerhalb des betrachteten Gegenstandes.

Der Vorfall, von dem ich rede, ist die Revolution, die mit der sogernannten Reformationszeit begonnen hat. Die Etappen dieser Revolution sind: die eigentliche Reformation mit ihren geistigen und sozialen Umwandlungen, ihren Säkularisationen und Staatenbildungen - der Bauernkrieg - die englische Revolution - der Dreißigjährige Krieg - der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, weniger um seiner Vorfälle, als seiner geistigen Prozesse und Ideen willen, mit denen er den stärksten Einfluss auf das ausübte, was nun folgt: die große Französische Revolution.

Es wird im ferneren gezeigt werden, dass die große Französische Revolution nicht nur in Frankreich, sondern in Europa dauert und lebendig ist von 1789 bis 1871, und dass das Jahr 1871 einen deutlichen und merkbaren Einschnitt bedeutet.

Ich habe aber nicht die Kühnheit zu behaupten, damit sei die gewaltige Bewegung, deren Beginn ich ins 16.Jahrhundert setze, am Ende, erloschen, versickert. Ich behaupte nur, wir seien jetzt gerade in einer kleinen Pause, und es hängt ganz und gar von unserer Natur, von unserem Willen, von unserer inneren Macht ab, ob wir den Punkt, in dem wir stehen, als einen Wendepunkt, als eine Entscheidung betrachten oder als einen Ort größter Faulheit und Ermattung.

Die nach uns kommen, werden es wissen, das kann aber nur heißen: sie werden es anders wissen. Selbstverständlich leugne ich nicht, dass nach meiner eigenen Darstellung man in dem Zeitraum dieser vierhundert Jahre auch von mehreren Revolutionen und von immer festgesetzten Stabilitäten sprechen kann.

Man wird mir sagen, meine Konstruktion eines einheitlichen, untrennbaren, zusammengehörigen Verlaufs mit allerlei Auf und Ab und ohne dass er jetzt schon zu Ende wäre, sei eine Willkür. Ich kann nur erwidern, dass ich gerade das behaupte, dass ich nur hinzufüge, dass alle geschichtliche Betrachtung all dieser Dinge unter dem Einfluss unseres Willens, unserer gegenwärtigen Zustände, mit einem zusammenfassenden Wort: unseres Weges steht.

Ich behaupte sogar, dass unser geschichtliches Gedächtnis viel weniger von den Zufällen der äußeren Überlieferung und Erhaltung abhängt als von unserem Interesse. Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen von dem Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg.

Anders ausgedrückt heißt das, dass die Vergangenheit nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg, nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserem Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist.

Damit ist nicht bloß gemeint, dass wir sie je nach unserem Weiterschreiten anders betrachten. Das wäre zu wenig gesagt. Ich behaupte vielmehr aller Paradoxie zum Trotz ganz wörtlich, dass die Vergangenheit sich ändert. Indem nämlich in der Kette der Kausalität nicht eine starre Ursache eine feste Wirkung hervorbringt, diese wieder zur Ursache wird, die wieder ein Ei legt usw. So ist es nicht.

Nach dieser Vorstellung wäre die Kausalität eine Kette hintereinander folgender Posten, die alle außer dem Letzten still und angewurzelt feststünden. Nur der Letzte geht einen Schritt vorwärts, aus ihm entspringt dann ein Neuer, der wieder weiter vorgeht und so fort. Ich sage dagegen, dass es die ganze Kette ist, die vorwärts geht, nicht bloß das äußerste Glied. Die sogenannten Ursachen verändern sich mit jeder neuen Wirkung.

Die Vergangenheit ist das, wofür wir sie nehmen, und wirkt dementsprechend sich aus; wir nehmen sie aber nach Tausenden von Jahren als ganz etwas anderes als heute, wir nehmen sie oder sie nimmt uns mit fort auf den Weg.

Gustav Landauer - Die Revolution, 1. Auflage, Oktober 2003, Band 9 der Reihe "Klassiker der Sozialrevolte", hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt, UNRAST-Verlag, Münster, Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

https://ptgustavlandauer.files.wordpress.com/2016/09/landauer-die-revolution.pdf