Was ist Tan­tra?

Die Wie­der­ver­bin­dung von Liebe, Sexua­li­tät und Bewusst­sein
von Saleem Mathias Riek 

Tan­tra, das Wort mit dem schö­nen Klang, war bis vor 20 Jah­ren im Wes­ten weit­ge­hend unbe­kannt. Heute erfreuen sich Tantra-Seminare zwar immer grö­ße­rer Beliebt­heit, aber es ran­ken sich auch viele zwei­fel­hafte Gerüchte darum herum. Tan­tra löst Sehn­süchte und zugleich auch Ängste aus, und das hat einen ganz ein­fa­chen Grund. Im Unter­schied zu den aller­meis­ten spi­ri­tu­el­len Rich­tun­gen und Reli­gio­nen, und auch im Unter­schied zu den meis­ten For­men von The­ra­pie und Selbst­er­fah­rung, macht Tan­tra nicht den obli­ga­to­ri­schen Bogen um das Thema Sexua­li­tät.

Zwar scheint das Thema Sex heute weit­ge­hend ent­ta­bui­siert zu sein, es prangt uns von über­all her ent­ge­gen, nackte Kör­per in Illus­trier­ten aller­or­ten, in Talk­shows wer­den die letz­ten inti­men Details des Lie­bes­le­bens ans Licht gezerrt. Das ändert aber nichts an der Tat­sa­che, dass sich nur die wenigs­ten Men­schen in ihrer Sexua­li­tät wirk­lich wohl und frei füh­len.

Mit Schlag­zei­len wie "Tan­tra – Gött­li­che Ekstase oder Grup­pen­sex?" stür­zen sich die Medien auf­la­gen­stei­gernd auf das Thema und spie­geln dadurch nur ihre eigene und unser aller tiefe Ver­let­zung als sexu­el­les Wesen. Unsere Kul­tur hat nicht nur Sex und Herz von­ein­an­der getrennt, sie hat auch Sexua­li­tät zum Feind spi­ri­tu­el­ler oder reli­giö­ser Ent­wick­lung erklärt, und die Fol­gen davon tra­gen wir alle in unse­ren Kno­chen, in unse­rem Kör­per. In Tan­tra­grup­pen wer­den diese The­men in einer Offen­heit und Direkt­heit ange­spro­chen und erforscht, die sonst sel­ten zu fin­den ist. Dabei ist behut­sa­mes Vor­ge­hen beson­ders wich­tig, um einen siche­ren Rah­men für die Selbst­er­kun­dung zu schaf­fen.

Im tra­di­tio­nel­len Tan­tra muss­ten sich die Schü­ler in jah­re­lan­ger Medi­ta­ti­ons­pra­xis üben, bevor sie in die sexu­el­len Prak­ti­ken ein­ge­führt wur­den. Damit war die Vor­aus­set­zung geschaf­fen, dass es nicht um vor­der­grün­di­ges Aus­le­ben von Sex ging. Jemand, der das dort gesucht hätte, hätte längst vor­her auf­ge­ge­ben. In unse­rer Zeit und Kul­tur sind die tra­di­tio­nel­len Rituale und Metho­den kaum anwend­bar. Statt­des­sen wurde die Essenz von Tan­tra – haupt­säch­lich vom indi­schen Mys­ti­ker Osho inspi­riert – in neue For­men ein­ge­klei­det und wird heute meist in einer Weise gelehrt, die sich ober­fläch­lich kaum von ande­ren For­men der Selbst­er­fah­rung unter­schei­det. Und doch gibt es einen wesent­li­chen Unter­schied, der sich man­chem sofort, ande­ren erst bei län­ge­rer Erfah­rung im Tan­tra erschließt.

Tan­tra beinhal­tet weit mehr als die Beschäf­ti­gung mit unse­rer Sexua­li­tät. Tan­tra bedeu­tet in sei­ner Essenz, das Leben in allen sei­nen Aspek­ten anneh­men zu ler­nen, bedeu­tet das Leben zu leben anstatt es zu bewer­ten, bedeu­tet unsere ganze Palette von Gefüh­len zu spü­ren anstatt sie in gute und schlechte Gefühle zu unter­tei­len und dann den ver­meint­lich guten Gefüh­len hin­ter­her­zu­ren­nen. Tan­tra bedeu­tet, unsere Fähig­keit zu Prä­senz, zum unmit­tel­ba­ren Gewahr­sein, zur Medi­ta­tion mit­ten in alle Erfah­run­gen unse­res Lebens hin­ein­zu­brin­gen und unsere Erfah­rung damit zu ver­wan­deln.

Ein sol­cher Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess ist unse­rem Kul­tur­kreis eher fremd, sind wir doch dar­auf gedrillt, dass nur das ent­schlos­sene Tun Ver­än­de­rung bewirkt. Unsere Kul­tur ist extrem männ­lich geprägt, in dem Sinne, dass weib­li­che Qua­li­tä­ten wie Hin­gabe oder ein­fach SEIN zu kurz kom­men. Tan­tra beschäf­tigt sich schon seit Tau­sen­den von Jah­ren mit der arche­ty­pi­schen Pola­ri­tät von männ­lich und weib­lich und kann eini­ges zur Hei­lung der Bezie­hun­gen von Män­nern und Frauen bei­tra­gen. Im Tan­tra kön­nen wir ent­de­cken, dass in der Hin­gabe an das, was ist, eine ganz andere Art von Ver­än­de­rung geschieht, eine Ver­än­de­rung, in der wir in einen Ein­klang mit der Exis­tenz kom­men, in der wir das Wun­der des Lebens und der Exis­tenz wie­der zu sei­nem Recht kom­men las­sen.

Die­ser Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess macht auch vor sinn­li­cher Erfah­rung, vor pri­ckeln­der Ero­tik und lust­vol­ler Sexua­li­tät nicht halt. Tan­tra lädt uns ein, unsere Unschuld als sinn­li­ches und sexu­el­les Wesen wie­der zu ent­de­cken, für uns in Besitz zu neh­men und zu fei­ern. Wer aller­dings glaubt, an den eige­nen Macken vor­bei den Traum­part­ner zu fin­den oder ein schnel­les sexu­el­les Aben­teuer zu erle­ben, wird ent­täuscht! In die­sem Pro­zess begeg­nen wir all den Wun­den und Ver­let­zun­gen, die wir in die­sem Bereich erlit­ten haben. Wes­sen sexu­el­les Erwa­chen wurde in der Puber­tät gefei­ert oder über­haupt nur lie­be­voll unter­stützt und beglei­tet? Wer wurde nicht in sei­ner Würde als sexu­el­lem Wesen miss­ach­tet, durch Igno­ranz, durch Ver­tu­schung und Heim­lich­kei­ten oder sogar durch direk­ten Miss­brauch? Aber anstatt sich die­sen Ver­let­zun­gen zu stel­len, um sie zu hei­len, grei­fen viele Men­schen lie­ber nach der Wun­der­pille, die Män­nern aus­dau­ernde Erek­tio­nen und neu­er­dings auch Frauen unzäh­lige Orgas­men ver­spricht.

Tan­tra ist keine Wun­der­pille. Tan­tra ver­spricht nicht, dass wir dem Spü­ren unse­rer Wun­den ent­kom­men. Im Tan­tra wer­den para­do­xer­weise sogar gerade unsere ver­wun­de­ten Berei­che zum Tor zu Inti­mi­tät und zu unse­rer Essenz. In der Bereit­schaft, alles zu spü­ren, die Lust wie den Schmerz, die Wut und Trauer genauso wie die Freude und die sexu­el­len Emp­fin­dun­gen, ver­wan­delt sich unsere Erfah­rung und führt uns in die Unmit­tel­bar­keit des Daseins. In dem Dasein­las­sen von dem, was ist, öff­net sich unser Herz. Wir kön­nen auf einer ganz tie­fen Ebene ent­span­nen, wenn wir nicht mehr anders sein müs­sen, als wir sind. Tan­tra beginnt mit der Liebe zu uns selbst und führt uns zur Liebe zu unse­rem Part­ner und unse­ren Nächs­ten und dar­über hin­aus zur Liebe für alle füh­len­den Wesen und zur Liebe für die Exis­tenz. Tan­tra schafft einen Erleb­nis­raum, in dem dies nicht nur schöne Worte blei­ben, son­dern prak­tisch und kon­kret wer­den kann. Dies beinhal­tet die Chance, die Erfah­run­gen soweit zu inte­grie­ren, dass sie auch im All­tag ihre Früchte tra­gen kön­nen.

Tan­tra ist kein leich­ter Weg. In Indien und Tibet, woher Tan­tra stammt, galt Tan­tra im Gegen­teil als beson­ders her­aus­for­dern­der Weg, als eine Wan­de­rung auf des Mes­sers Schneide. Die Metho­den haben sich wie gesagt im west­li­chen Tan­tra sehr ver­än­dert, unse­ren kul­tu­rel­len Bedin­gun­gen ange­passt. Aus Tan­tra ist auch ein Markt gewor­den, mit z.T. sehr unter­schied­li­cher Aus­rich­tung. Für man­che steht der eigene Hei­lungs­pro­zess im Vor­der­grund, für andere das Lieben-Lernen, für dritte das Aben­teuer des Leben­dig Seins und für man­che wird Tan­tra zu ihrem spi­ri­tu­el­lem Weg, zur Rück­ver­bin­dung mit dem Sein. In dem brei­ten öffent­li­chen Zugang zum Tan­tra lie­gen Chan­cen wie Gefah­ren. Einer­seits braucht nie­mand eine jah­re­lange Expe­di­tion in den Hima­laya zu unter­neh­men, um Tan­tra ken­nen zu ler­nen, ande­rer­seits kann in der nur ober­fläch­li­chen Beschäf­ti­gung mit Tan­tra das eigent­li­che Geschenk über­se­hen wer­den, das uns Tan­tra zu geben hat: uns mit dem Leben in allen sei­nen Aspek­ten anzu­freun­den und darin unsere tiefste Natur, unser Wesen zu ent­de­cken.

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