I. Die leibliche Wesenheit des Menschen
Durch leibliche Sinne lernt man den Leib des Menschen kennen. Und die Betrachtungsart kann dabei keine andere sein als
diejenige, durch welche man andere sinnlich wahrnehmbare
Dinge kennen lernt. Wie man die Mineralien, die Pflanzen, die
Tiere betrachtet, so kann man auch den Menschen betrachten.
Er ist mit diesen drei Formen des Daseins verwandt. Gleich den
Mineralien baut er seinen Leib aus dem Stoffen der Natur auf;
gleich den Pflanzen wächst er und pflanzt sich fort; gleich den
Tieren nimmt er die Gegenstände um sich herum wahr und bildet auf Grund ihrer Eindrücke in sich innere Erlebnisse. Ein
mineralisches, ein pflanzliches und ein tierisches Dasein darf
man daher dem Menschen zusprechen.
Die Verschiedenheit im Bau der Mineralien, Pflanzen und Tiere
entspricht den drei Formen ihres Daseins. Und dieser Bau - die
Gestalt - ist es, was man mit den Sinnen wahrnimmt und was
man allein Leib nennen kann. Nun ist aber der menschliche
Leib von dem tierischen verschieden. Diese Verschiedenheit
muss jedermann anerkennen, wie er auch über die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren sonst denken mag. Selbst
der radikalste Materialist, der alles Seelische leugnet, wird nicht
umhin können, den folgenden Satz zu unterschreiben, den
Carus in seinem «Organon der Erkenntnis der Natur und des Geistes» ausspricht:
«Noch immer bleibt zwar der feinere innerlichste Bau des
Nervensystems und namentlich des Hirns dem Physiologen
und Anatomen ein unaufgelöstes Rätsel; aber dass jene Konzentration der Gebilde mehr und mehr in der Tierreihe steigt
und im Menschen einen Grad erreicht, wie durchaus in keinem anderen Wesen, dies ist eine vollkommen festgestellte
Tatsache; es ist für die Geistesentwicklung des Menschen von
höchster Bedeutung, ja wir dürfen es geradezu aussprechen,
eigentlich schon die hinreichende Erklärung. Wo der Bau des
Hirns daher nicht gehörig sich entwickelt hat, wo Kleinheit
und Dürftigkeit desselben, wie beim Mikrozephalen und Idioten, sich verraten, da versteht es sich von selbst, dass vorn
Hervortreten eigentümlicher Ideen und vom Erkennen gerade so wenig die Rede sein kann wie in Menschen mit völlig
verbildeten Generationsorganen von Fortbildung der Gattung. Ein kräftig und schön entwickelter Bau des ganzen
Menschen dagegen und des Gehirns insbesondere wird zwar
noch nicht allein den Genius setzen, aber doch jedenfalls die
erste unerlässlichste Bedingung für höhere Erkenntnis gewähren.»
Wie man dem menschlichen Leib die drei Formen des Daseins,
die mineralische, die pflanzliche und die tierische, zuspricht, so
muss man ihm noch eine vierte, die besondere
menschliche,
zusprechen. Durch seine mineralische Daseinsform ist der
Mensch verwandt mit allem Sichtbaren, durch seine pflanzliche
mit allen Wesen, die wachsen und sich fortpflanzen; durch seine tierische mit allen, die ihre Umgebung wahrnehmen und auf
Grund äußerer Eindrücke innere Erlebnisse haben; durch seine
menschliche bildet er schon in leiblicher Beziehung ein Reich
für sich.
II. Die seelische Wesenheit des Menschen
Als eigene Innenwelt ist die seelische Wesenheit des Menschen
von seiner Leiblichkeit verschieden. Das Eigene tritt sofort entgegen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die einfachste Sin-
nesempfindung lenkt. Niemand kann zunächst wissen, ob ein
anderer eine solche einfache Sinnesempfindung in genau der
gleichen Art erlebt wie er selbst. Bekannt ist, dass es Menschen
gibt, die farbenblind sind. Solche sehen die Dinge nur in verschiedenen Schattierungen von Grau. Andere sind teilweise far-
benblind. Sie können daher gewisse Farbennuancen nicht
wahrnehmen. Das Weltbild, das ihnen ihr Auge gibt, ist ein anderes als dasjenige sogenannter normaler Menschen. Und ein
Gleiches gilt mehr oder weniger für die andern Sinne. Ohne
weiteres geht daraus hervor, dass schon die einfache Sinnesempfindung zur Innenwelt gehört. Mit meinen leiblichen Sinnen
kann ich den roten Tisch wahrnehmen, den auch der andere
wahrnimmt; aber ich kann nicht des andern Empfindung des
Roten wahrnehmen.
Man muss demnach die Sinnesempfindung als
Seelisches bezeichnen. Wenn man sich diese Tatsache
nur ganz klar macht, dann wird man bald aufhören, die Innenerlebnisse als
bloße Gehirnvorgänge oder ähnliches anzusehen.
- An die Sinnesempfindung schließt sich zunächst das
Gefühl.
Die eine Empfindung macht dem Menschen Lust, die andere
Unlust. Das sind Regungen seines inneren, seines seelischen
Lebens. In seinen Gefühlen schafft sich der Mensch eine zweite
Welt zu derjenigen hinzu, die von außen auf ihn einwirkt. Und
ein Drittes kommt hinzu: der Wille. Durch ihn wirkt der
Mensch wieder auf die Außenwelt zurück. Und dadurch prägt
er sein inneres Wesen der Außenwelt auf. Die Seele des Menschen fließt in seinen Willenshandlungen gleichsam nach au-
ßen. Dadurch unterscheiden sich die Taten des Menschen von
den Ereignissen der äußeren Natur, dass die ersteren den Stempel seines Innenlebens tragen. So stellt sich die
Seele als das Eigene des Menschen der Außenwelt gegenüber. Er erhält von der
Außenwelt die Anregungen; aber er bildet in Gemäßheit dieser
Anregungen eine eigene Welt aus. Die Leiblichkeit wird zum
Untergrunde des Seelischen.
III. Die geistige Wesenheit des Menschen
Das Seelische des Menschen wird nicht allein durch den Leib
bestimmt. Der Mensch schweift nicht richtungs- und ziellos von
einem Sinneseindruck zum andern; er handelt auch nicht unter
dem Eindrucke jedes beliebigen Reizes, der von außen oder
durch die Vorgänge seines Leibes auf ihn ausgeübt wird. Er
denkt über seine Wahrnehmungen und über seine Handlungen
nach. Durch das Nachdenken über die Wahrnehmungen erwirbt er sich Erkenntnisse über die Dinge; durch das Nachden-
ken über seine Handlungen bringt er einen vernunftgemäßen
Zusammenhang in sein Leben. Und er weiß, dass er seine Aufgabe als Mensch nur dann würdig erfüllt, wenn er sich durch
richtige Gedanken sowohl im Erkennen wie im Handeln leiten
lässt. Das Seelische steht also einer zweifachen Notwendigkeit
gegenüber.
Von den Gesetzen des Leibes wird es durch Naturnotwendigkeit bestimmt; von den Gesetzen, die es zum richtigen Denken führen, lässt es sich bestimmen, weil es deren Notwendigkeit frei anerkennt. Den Gesetzen des Stoffwechsels ist
der Mensch durch die Natur unterworfen; den Denkgesetzen
unterwirft er sich selbst. - Dadurch macht sich der Mensch zum
Angehörigen einer höheren Ordnung, als diejenige ist, der er
durch seinen Leib angehört. Und diese Ordnung ist die
geistige.
So verschieden das Leibliche vom Seelischen, so verschieden ist
dieses wieder vom Geistigen. Solange man bloß von den Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoffteilchen spricht,
die sich im Leibe bewegen, hat man nicht die Seele im Auge.
Das seelische Leben beginnt erst da, wo innerhalb solcher Bewegung die Empfindung auftritt: ich schmecke süß oder ich
fühle Lust. Ebensowenig hat man den
Geist im Auge, solange
man bloß die seelischen Erlebnisse ansieht, die durch den Menschen ziehen, wenn er sich ganz der Außenwelt und seinem
Leibesleben überlässt. Dieses Seelische ist vielmehr erst die
Grundlage für das Geistige, wie das Leibliche die Grundlage für
das Seelische ist. - Der Naturforscher hat es mit dem Leibe, der
Seelenforscher (Psychologe) mit der Seele und der Geistesfor-
scher mit dem
Geiste zu tun. Durch Besinnung auf das eigene
Selbst sich den Unterschied von Leib, Seele und Geist klarzuma-
chen ist eine Anforderung, die an denjenigen gestellt werden
muss, der sich denkend über das Wesen des Menschen aufklä-
ren will.
http://anthroposophie.byu.edu/schriften/009.pdf