Träumer, Visionäre, Utopisten - Sie scheiterten. Jetzt sind wir dran.

Geld, wie Silivo Gesell es sich wünscht, verliert binnen kürzester Zeit an Wert. Das führt zu schnellem Geldausgeben, zur Ankurbelung der Wirtschaft, zur Verhinderung von Kapitalanhäufungen. Ende der Zinsknechtschaft. Geld wird einer wöchentlichen Steuer unterworfen und mit einem Stempel markiert. Ungestempeltes Geld wird von den Staatskassen zurückgewiesen.

Vor allem aber und zuallererst muss das Geldhamstern aufhören. Und zwar sofort. Der Geldhamster sie das gefährlichste Tier überhaupt, ist Silvio Gesell überzeugt, Geld muss fließen, strömen, in Ware verwandelt werden, in Glück. Sofort. Und er wird Geld dazu zwingen, sich schnell aufzulösen, so schnell, wie Silvio Gesell es will. Er kann es in herrlichen Bildern beschreiben. Seine Theorie ist keine Theorie. Seine Theorie ist reine Praxis: „Bildlich gesprochen soll das Geld wie die Kartoffeln faulen, wir Guano die Luft verpesten, wie Dynamit explodieren, wie ein Pferd gefüttert, wie Maschinen behandelt werden. Es soll wie Baumwolle platz beanspruchen, wie Ziegelsteine wiegen, wie Schwefelsäure ätzen, wie Glas zerbrechen.“ Explodieren! Zerbrechen! Ätzen! Silvio Gesell wird Volksbeauftragter für Finanzen.

Schließlich ist noch das Amt des Volksbeauftragten für Erziehung und Unterricht zu vergeben. Gustav Landauers Lebensamt. Die Seelen umbilden! Eisner hatte sich diesen Auftrag ja nicht ausgedacht. Es war Gustav Landauers Lebensziel, die Seelen der Menschen von Grund auf neu zu bilden. Neues Denken. Neues Herz. In den Schulen damit beginnen. In den Universitäten das Werk fortführen. Den Plan dazu, seinen Regierungsplan, hat er lange schon parat. All seine Texte über die Literatur, die er geschrieben hatte, über Goethe, Hölderlin, Walt Whitman, Leo Tolstoi, seine Vorträge über Shakespear, sie waren ja alle im Grunde geistige Vorarbeiten zur Tat. Transformation der Idee in Wirklichkeiten.

Und es war jetzt so weit. Ein Leben lang gedacht, gelesen, gedeutet und geplant. Es war Verwirklichungsnacht. Bei Leo Tolstoi hatte er diese drei Fragen und Antworten gefunden. Grundgesetze des Lebens. „Welche Zeit ist die wichtigste? Welcher Mensch? Welche Seele? Zeit - der Augenblick; Mensch - der, mit dem man’s gerade zu tun hat; Seele - Rettung der eigenen Seele, Liebeswerk also.“ Landauer ist bereit für das Amt des Volksbeauftragten für Erziehung und Unterricht.

Hecht interviewt ihn jeden Tag, er sei fasziniert von Landauers Eigenwilligkeit. „Er neigt dazu, während seiner Rede innezuhalten und einen Namen mit einem unvermuteten Schrei auszurufen. Die Interviews bestanden hauptsächlich aus Diskussionen über Walt Whitman.“ Der Eckpfeiler seines Erziehungsprogramms sei, dass jedes Kind im Alter von zehn Jahren Walt Whitman auswendig lerne, so Hecht.

Mit großem Schwung geht es nun an die Proklamation seiner Republik. Eigentlich steht der Text ja schon. Die Mühsam-Landauer-Resolution aus dem Restaurant.

Währenddessen arbeitet Ernst Toller auch an einer Kampfschrift. Er schreibt die Bedingungen auf, die seine Partei, die USPD, in den Verhandlungen der Nacht formuliert, um sie am nächsten Tag veröffentlichen zu können, mit dem Zusatz, dass die Bedingungen angenommen worden seien.

„In den Vorzimmern des Zentralrats drängen sich die Menschen, jeder glaubt, die Räterepublik sei geschaffen, um seine privaten Wünsche zu erfüllen. Eine Frau möchte sofort getraut werden, bisher hatte sie Schwierigkeiten, es fehlten notwenige Papiere, die Räterepublik soll ihr Lebensglück retten. Ein Mann will, dass man seinen Hauswirt zwinge, ihm die Miete zu erlassen. Eine Partei revolutionärer Bürger hat sich gebildet, sie fordert die Verhaftung aller persönlichen Feinde, früherer Kegelbrüder und Vereinskollegen.
Verkannte Lebensreformer bieten ihre Programme zur Sanierung der Menschheit an, ihr seit Jahrzehnten befehdetes Lebenswerk bürge dafür, dass jetzt endlich die Erde in ein Paradies verwandelt werde. Sie wollen die Welt aus einem Punkt kurieren, lässt man die Prämisse gelten, ist ihre Logik unangreifbar. Die einen sehen die Wurzel des Übels im Genuss gekochter Speisen, die anderen in der Goldwährung, die dritten im Tragen unporöser Unterwäsche, die vierten in der Maschinenarbeit, die fünften im Fehlen einer gesetzlich vorgeschriebenen Einheitssprache und Einheitskurzschrift, die sechsten machen Warenhäuser und sexuelle Aufklärung verantwortlich. Sie erinnern alle an jeden schwäbischen Schuster, der in einer umfangreichen Broschüre zwingend bewies, dass die Menschheit nur darum moralisch krank sei, weil sie ihre elementaren Bedürfnisse in geschlossenen Räumen verrichte und künstliches Papier benütze. Wenn sie, dozierte er, diese Minuten in Wäldern verbrächten und mit natürlichem Moos sich behülfen, würden auch ihre seelischen Giftstoffe im Kosmos verdunsten, körperlich und seelisch gereinigt, als gute Menschen, kehrten sie zur Arbeit zurück, ihr soziales Gefühl wäre gekräftigt, der Egoismus verschwände, die wahre Menschenliebe erwacht, und das Reich Gottes auf Erden, das langverheißene, bräche an.“

Setzt euch über alle Führer hinweg, wenn sie gegen die Einigkeit des gesamten Proletariats sind. Nicht die Eitelkeit der Führer, sondern die Not des Proletariats zu befriedigen ist unsere Aufgabe.

Und er liefet eine kurze Definition dessen, was die neue Republik ist und was sie bedeutet: „Unter Räterepublik ist nichts anderes zu verstehen, als dass das, was im Geiste lebt und nach Verwirklichung drängt, nach irgendwelcher Möglichkeit durchgeführt wird.“ Wer bei diesem großen Projekt mitmachen will, mit ganzer Kraft, freudig und entschlossen, der solle ihm das mitteilen. Jeder Einzelne. „Eine Gesamterklärung werde ich nicht annehmen.“ Macht! Alle! Mit!

Einer von Landauers wichtigsten Mitarbeitern war der Revolutionär Ret Marut, der während des Krieges die pazifistische Kampfschrift „Der Ziegelbrenner“ herausgegeben und alle Beiträge darin auch selbst geschrieben hatte. Marut war ein  Unsichtbarer.

„Halloh, Ihr Menschen! Halloh!
Ich gehöre weder der Sozialdemokratischen Partei an, noch bin ich ein unabhängiger Sozialist. Ich gehöre weder der Spartacus-Gruppe an, noch bin ich ein Bolschewist.
Ich kann keiner Partei angehören, weil ich in jeder Partei-Zugehörigkeit eine Beschränkung meiner persönlichen Freiheit erblicke, weil die Verpflichtung auf ein Partei-Programm mir die Möglichkeit nimmt, mich zu dem zu entwickeln, was mir als das höchste und das edelste Ziel auf Erden gilt: Mensch sein zu dürfen!
Die edelste, reinste und wahrhafteste Menschenliebe ist die Liebe zu sich selbst. Ich will frei sein!
Aber meine Freiheit ist nur dann gesichert, wenn alle anderen Menschen um mich frei sind.
Mehr als fünfzig Monate bin ich in der schamlosesten Weise belogen und betrogen worden, von der Regierung, vom Kaiser, vom König, von meinen Nachbarn und von der verlumptesten Institution, die sich auf Erden befindet: Die Presse.
Sie wollen nichts weiter als ‘Ruhe und Ordnung’.
Ruhe und Ordnung heißt: Schutz dem Kapitalisten, damit er in aller Ruhe und Ordnung denjenigen, der essen möchte, auspovern kann.
Ruhe und Ordnung macht schlafmützig. Ruhe und Ordnung bringen mich um meine persönliche Freiheit. Bewegung, Gesellen! Nicht einschlafen! Die Revolution hat erst begonnen.
Ich brauche keine National-Versammlung. Ich gehe nicht zur Wahl. Ich wähle nicht, ich will auch nicht gewählt werden. Ich fühle mich unter der Diktatur des Proletariats – obgleich ich kein Arbeiter bin und nicht zum Proletariat gehöre, – so wohl wie ich mich in meinem ganzen Leben noch unter keiner Regierung gefühlt habe und ich habe beinahe alle Länder der Erde kennen gelernt und in vielen nichtdeutschen Ländern viele, viele Jahre gelebt."

Gusto Gräser ist gerade dabei, eine Art Weltstar zu werden. Er weiß es nur noch nicht. Und auch nicht unter seinem eigenen Namen Gusto Gräser, sondern in literarischer Verkleidung, als einer der die Menschen dem Weg nach innen führt, zu einem neuen Gott, zu sich selbst. Es ist der Name „Demian“, unter dem der berühmt werden wird.

„Hundert und mehr Jahre lang“, erklärt er seinem staunenden Freund Sinclair, „hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie man betet, sie wissen nicht einmal wie man eine Stunde lang vergnügt sein kann.“ So oder ähnlich sind Max Demians Ansprachen an den sehnsüchtig Lauschenden. „Was die Natur mit dem Menschen will, steht in den Einzelnen geschrieben, in dir und mir. Es stand in Jesus, es stand in Nietzsche. Für diese allein wichtigen Strömungen - die natürlich jeden Tag anders aussehen können, wird Raum sein, wenn die heutigen Gemeinschafen zusammenbrechen.“

Hermann Hesse, der schwäbische Kriegsgegner in der Schweiz - wohin sollte er denn, wenn nicht nach München?
Doch da täuschen sich alle. Hesse hat seinen Demian nach Deutschland geschickt. Er selbst flieht in die andere Richtung. Viele Menschen, so schreibt er in seinen Briefen, trügen ihm in diesen Tagen politische Ämter an in Deutschland. Mitmachen, Hermann Hesse! Aber Hesse will nicht. Er will frei sein. Gerade hat er sich von Frau und Kind getrennt. Er will zurück zu den „drei Tröstungen meiner Jugendjahre: literarische Arbeit, Alkohol und im Hintergrund der tröstliche Gedanken an den Selbstmord“. Oh ja, in Gedanken ist er radikal: „Ich wäre reif zum Spartakisten, wenn ich da nicht moralische Hemmungen hätte: ich halte zwar Selbstmord aus Verzweiflung für erlaubt, nicht aber Totschlag an anderen.“

Hesse ruft zur Einkehr auf, dazu, Dinge geschehen zu lassen. Er fürchtet in neuen Revolutionen neue Gewalt, in neuen Weltverbesserungsideen nur wieder neues Unheil, neues Leid. „Und darum eilet ihr zu neuen Taten, laufet auf die Gassen, stürmet und schreiet, wählt Räte und ladet wieder Gewehre. Und dies alles, weil ihr ewig auf der Flucht vor dem Leiden seid! Auf der Flucht vor euch selbst, vor eurer Seele!“

„Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden“, schreibt er in seiner Zarathustra-Schrift. „Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein. Ihr seid da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön!“

„Wenn jemals die Welt durch Menschen verbessert, durch Menschen reicher geworden, lebendiger, froher, gefährlicher, lustiger geworden ist, so ist sie es nicht durch Verbesserer geworden, sondern durch jene wahrhaft Selbstsüchtigen, zu welchen ich auch  euch so gerne zählen möchte. Jene ernstlich und wahrhaftig Selbstsüchtigen, welche kein Ziel kennen, welche keine Zwecke haben, denen es genügt zu leben uns sie selbst zu sein.“

„Das einzige was wir von Dichtern lernen können“, schreibt er: „Die Liebe. Die Welt und das Leben zu lieben, auch unter Qualen zu lieben, jedem Sonnenstrahl dankbar offen stehen und auch im Leid das Lächeln nicht ganz zu verlernen - diese Lehre jeder echten Dichtung veraltet nie und ist heute notwendiger und dankenswerter als je.“

Ernst Toller taumelt: „Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen, kämpfen will, muss klar wissen, dass Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten, dass ihm oft Art der Wehr und Gegenwehr aufgezwungen werden, die er als tragisch empfinden muss, an denen er, im tiefen Sinn des Wortes, verbluten kann.“

„Autorität und blinder Gehorsam regierten das kaiserliche Heer, auf Freiwilligkeit und Einsicht soll die rote Armee sich gründen, wir dürfen den alten, verhassten Militarismus nicht übernehmen, der rote Soldat darf keine Maschine sein, er hat erkannt, dass er für seine Sache ficht, sein revolutionärer Wille wir die notwendige Ordnung schaffen.“

Doch diesen Kampf kann Ernst Toller nicht gewinnen. Den Kampf gegen den deutschen Untertanengeist. Den Kampf gegen die Übermacht militärischer Wirklichkeit.


Volker Weidermann

Träumer - Als die Dichter die Macht übernahmen

1919, Revolution in München – und alle sind vor Ort: Ernst Toller, Thomas Mann, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke, Gustav Landauer, Oskar Maria Graf, Viktor Klemperer, Klaus Mann ...
Wann gab es das schon einmal – eine Revolution, durch die die Dichter an die Macht gelangten? Doch es gibt sie, die kurzen Momente in der Geschichte, in denen alles möglich erscheint ... Von einem solchen Ereignis, der Münchner Räterepublik zwischen November 1918 und April 1919 erzählt Volker Weidermann im Stil einer mitreißenden Reportage, bei der der Leser zum Augenzeugen der turbulenten, komischen und tragischen Wochen wird, die München, Bayern und Deutschland erschütterten.

Nach der Vorgeschichte, dem Ende des 1. Weltkriegs und der Absetzung des bayrischen Königs, beginnt der magische Moment, in dem alles möglich erscheint: radikaler Pazifismus, direkte Demokratie, soziale Gerechtigkeit, die Herrschaft der Phantasie. An der Spitze der Rätebewegung stehen die Schriftsteller Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam, auf die nach den Tagen der Euphorie und der schnellen Ernüchterung lange Haftstrafen oder der Tod warten. In rasantem Tempo und aus der Perspektive von Beteiligten und Beobachtern vor Ort wie Thomas Mann, Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Adolf Hitler, Viktor Klemperer oder Oskar Maria Graf entsteht so ein historischer Thriller über ein einzigartiges Ereignis der deutschen Geschichte.