Warum Europa eine Republik werden muss

Bildet euch, liebe Menschen, bildet euch. Und geht selbstbewusst aus der unverschuldeten, unbewussten Unmündigkeit heraus in eine Welt des neuen bewussten, liebvollen, demokratischen Miteinanders! Yeah!

Text aus: Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Bonn 2016, S.43ff

In Folge der kolossalen Verletzungen demokratischer Gebote sowie der Entkoppelung von wirtschaftlichen und politischen Raum sprießen heute überall in Europa von Finnland bis Griechenland Populisten wie Pilze aus dem Boden, rechte wie linke. Die so genannten Populisten opponieren gegen die EU. Sie brechen die klassischen Parteiensysteme auf und sorgen so für die Erosion der nationalen Demokratien. Der Populismus wird gemeinhin als Bedrohung für die liberalen demokratischen Gesellschaften gebrandmarkt. Europa hat aber nur in zweiter Linie ein Populismus Problem. Sein größtes Problem ist die politische Mitte!

Denn die politische Mitte ist nicht in der Lage oder willens, die EU als eine Vergewaltigung der Demokratie anzuprangern. Auch fühlt sie sich nicht bemüßigt, die EU in Richtung auf eine echte transnationale Demokratie hin weiterzuentwickeln und dabei besonders die positive politische und soziale Integration in Europa in den Mittelpunkt zu stellen. Die EU ist nicht in der Lage aus ihrer politischen Selbstverleugnung herauszutreten. Das ist das eigentliche Problem in Europa!

Der europäische Populismus kommt immer mit zwei Gesichtern daher. Das eine ist ein Anti-Euro-Gesicht, das andere Gesicht wendet sich gegen Migration und Überfremdung. Beide Gesichter verbindet Marie Le Pen mit Viktor Orbán, die „Wahren Finnen“ mit der FPÖ,  oder die schwedischen Demokraten mit Geert Wilders. Die deutsche AfD glaubte unter Bernd Lücke noch, sie könne das hässliche Gesicht hinter ihrem prozessoralen Anti-Euro-Gesicht verstecken, bevor Frauke Petra und Björn Hecke die xenophobe Fratze der Partei auch öffentlich zeigten.

Die Anti-Migration-Fratze der europäischen Populisten macht es der politischen Mitte leicht sich in moralische Überheblichkeit zu flüchten. Diese Überheblichkeit versperrt den Blick darauf, das die Populisten mit ihrer Euro-Kritik einen sehr wunden Punkt des Euro-Governance Systems treffen: der Euro kann zwar funktionieren, ist aber nicht demokratisch. Was Marie Le Pen und ihre fellows kritisieren, nämlich die europäische Post Demokratie, ist nicht sonderlich originell und findet sich als Tatbestand und Kritik in so ziemlich jeder wissenschaftlichen Analyse angesehener Politik und Sozialwissenschaftler. Ganze Bibliotheken lehren uns, dass der Euro nicht ausreichend legitimiert und europäische Parlamentarismus brüchig ist. Der Euro kann die soziale Kohäsion in Europa nicht gewährleisten. Nur wollten wir dieses Wissen jahrzehntelang nicht in die europäischen Parlamente transportieren. Wenn das jemand im politischen Raum laut sagt, kann er schnell in die Gefahr geraten, als Populist zu gelten.

Der gemeine Pegida-Spruch „Wir sind das Volk“ spiegelt für alle auf unangenehm grelle Weise die Tatsache wider, dass Bürger und nicht Staaten souverän sind - nicht im plebiszitären Sinn. Aber sie legitimieren als souveränes Kollektiv die parlamentarische Repräsentation. Folgt man dem Versuch einer Theorie des Populismus von Jan-Werner Müller, dann ist jemand noch lange kein Populist, nur weil er der Herrschaftsmeinung von nationalen oder europäischen Eliten widerspricht. Marie Le Pen wäre mithin noch keine Populisten oder gar pathologisch, nur weil sie berechtigte Kritik an der derzeitigen Euro Politik in Frankreich geltend macht.

Anstatt die Ursachen des populistischen Votums ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass es dafür reale Gründe eines Systemversagens gibt, welches soziale und kulturelle Exklusiv produziert, reagiert die politische Klasse oft selbstgefällig moralisch: Das eigene Argument wird ethisch überhöht, Rechtspopulisten gelten als nicht integer, irrational, böswillig oder gefährlich, wobei die identitären Bedürfnisse der Globalisierungverlierer als konkurrierende Werteordnung oder als einfach andere politische Meinung nicht anerkannt werden. Das geflügelte Wort dafür ist heute polarisieren: Wer der Mitte nicht beipflichtet, der polarisiert. Dadurch werden die Argumente der anderen nicht pariert, sondern nur politisch entwertet, und dem demokratischen Diskurs wird mithin selbst die Grundlage entzogen: Er muss zwangsläufig erodieren, wenn die politischen Argumente a priori nicht gleichwertig sind und Konsens über Dissens gestellt wird.

Mit der Ausgrenzung der Populisten beginnt also der Verfall der Demokratie. Dies ist nun wahrlich nicht zur Verteidigung, gar zur Entschuldigung von Einlassungen von AfD-Stimmungsmacher à la André Roggendorf oder Björn Hecke gemeint, indes ist die Frage aufzuwerfen, warum es ihnen beiden gelingt, in Sachsen-Anhalt respektive Thüringen die AfD auf inzwischen satte 24,2 Prozent (Landtagswahl Sachsen-Anhalt 2016) beziehungsweise 10,6 Prozent (Landtagswahl Thüringen 2014) zu bringen. Das sachlich Richtige darf nicht genannt werden und wird in die populistische Ecke gerückt. Im alltäglichen Klein-Klein scheiterte daran sogar jüngst die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im europäischen Parlament zur Juncker-Steueraffäre, den Linke und die Grünen nicht zusammen mit den Rechtspopulisten einsetzen wollten. Das ästhetische Prinzip von form follows funktion wird hier durchbrochen: Die Form, nicht die Funktion bestimmt die Politik in der EU. Die Wiedererlangung der politischen Ästhetik in Europa müsste hier ansetzen.

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