Der Traumstein

Nach vielen gleichen Tagen brach ich eines Abends auf, um meine Stadt zu verlassen. Viele Stunden war ich unterwegs. Viele Tage. Die Landschaften zogen an mir vorbei und veränderten sich. Ihre Hügel wurden höher, verschwanden mal ganz. Die Wälder wurden lichter, dann wieder dunkler. Ich reiste durch Nacht und bei Tag. Mein Ziel war eine andere Stadt.

Als ich dort ankam, funkelten noch keine Sterne am Himmel, doch der Arbeitstag war schon vorbei. Allein, wie ich war, ging ich durch die Straßen. Sie rochen nach süßer Hitze, dem Rest eines sonnigen Tages. Die Menschen saßen in Cafés und das Summen ihre Stimmen leitete mich. Ich schlenderte durch das Viertel, ohne Zwang, allein nach Lust.

Das Gehen machte mich hungrig. Und wie es der Zufall will, an der nächsten Ecke fand ich eine Mahlzeit. Ich setzte mich zu ihr und sie stärkte mich und gab mir Ruhe. Während ich aß, sah ich den Menschen zu, wie sie Hand in Hand anhielten, sich die erleuchteten Schaufenster ansahen. Manche lachten, manche schwiegen. Eine Gruppe lauter Männer bulte ein paar Häuser weiter um die Aufmerksamkeit einer schüchternen Frau in ihrer Mitte. Keiner konnte sie überzeugen. Als ich satt war, ging ich weiter.

In einer Straße voller alter Häuser mit Erkern, Winkeln und großen Bäumen fand ich Freunde. Sie nahmen mich auf. Wir unterhielten uns und lachten gemeinsam. Das Leben war leicht. Wir tranken Bier und sprachen über die letzten Monate, erzählen von Städten am Meer, sprachen über die Sehnsucht zur Reise, wir träumten uns weit weg und fuhren mit den Schiffen nach draußen, entdeckten die Meere, waren Freibeuter und eroberten die schönsten Frauen. Ihnen schenkten wir Schätze und ließen uns lieben.

Später, als die Sterne funkelten, es kalt wurde, brachen wir auf, machten uns auf den Weg, einen Ort zu finden, der uns Wärme geben konnte. Hinter Bahngleisen fanden wir ihn. Dort, neben einem kleinen Garten, auf einer schmalen Treppe mit verrostetem Eisengeländer stiegen wir in einen Keller voller Musik und Menschen. Im ersten Raum saß ein glattrasierter junger Mann und herrschte über seinen Vorrat an Getränken. Er grinste breit und verkaufte volle Flaschen an leere Händen.

In nächsten Raum nebenan war alles blau. Die Wände, die Decke, der Boden, die Kleider der Anwesenden und ihre Gesichter. Eine orientalische Schönheit saß auf einem Sessel. Ich setzte mich neben sie und blies blauen Rauch in die Luft. Sprach ich mit ihr? Atmete sie? Wo war ich hier? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich stand wieder auf. Mein Ziel war der Tanzraum. Dort fing die Decke an, wo die Frisur endete. Die Musik massierte die Luft und man schrie. Alles bewegte sich. Ich tanzte wild und ausgelassen.

Nach einer Weile begann das Licht zu flimmern. Die Gespräche zerflossen. Aus ihnen bildeten sich farbige Muster in denen Gesichter schwammen, aus denen Hände und Hüften zuckten. Die Welt drehte sich im Kreis, um mich, um sich – immer schneller und schneller. Unaufhörlich. Ich drohte im Strudel zu versinken. Das Nichts wollte mich auflösen. Doch es fand mich eine Hand. Sei streifte mich kurz, dann packte sie zu und riss mich zurück ins Licht der Dunkelheit.

Plötzlich atmete ich wieder frische Luft. Ein Arm hielt mich fest und schlüpfte unter meine Jacke. So leitete mich das Mädchen durch die Morgendämmerung. So fand ich den Weg zu ihrem Haus. Wir gingen durch die Türe, ein Treppenhaus hinauf und in ihr Zimmer. Es packte uns ein fiebriger Sturm. Er nahm unsere Kleider mit fort und fegte uns aufs Bett. Meine Kehle war eine Wüste und meine Augen sahen die Nacht. Zwischen Wasser und Licht zerstreuten wir die Laken. Ich nahm nur Momente war, doch gruben sich diese tief in mich hinein. Ihr braunen Augen funkelten. Ihr kurzes Haar glitt durch meine Finger. Ihre Lippen küssten meine Finger. Das Reiben wollte noch mehr. Sie sprang nach rechts, ich fiel zum Rand. Über mir erschien ihr Lachen. Unter mir verschwanden ihre Beine. Das Unwetter tobte. Blitze krachten. Alles bebte. Als der Sturm nachließ, wurde es still und ich verlor mein Leben.

Eine fremde Nähe weckte mich auf. Mit einem Seufzer kam ich zurück ins Leben. Unsicher stand ich auf und zog mich an. Sie zog den Rollladen hoch und die Mittagssonne blendete mich. Ich wollte zu meiner Jacke greifen, doch ich fand meine Jacke nicht. Die Jacke war nicht da. Sie war nicht zu finden. In allen Räumen suchte ich nach ihr, ich lief durch die Wohnung, verrückte Stühle, bewegte Türen, wühlte in Stoffen. Dreimal lief ich in durch alle Räume, dann sagte sie: „Du musst wiederkommen und sie später holen.“ Das wollte ich nicht. Ich brauchte meine Jacke. In ihr befand sich mein Geld, mein Pass, meine Schlüssel. Ich legte meine Stirn in Falten und zog die Schultern hoch. Schließlich gab sie mir die Jacke und ich floh aus dem Haus.

Draußen sah ich mich um und erkannte keine Richtung. Ob ich nach links oder rechts ging, weiß ich nicht mehr. Doch mit jedem Schritt wurde ich sicherer - und glücklicher. Sie hatte mir zwar meine Jacke mitgegeben, doch hatte sie auch etwas behalten. Etwas, das mich belastet hatte. An der nächsten Ecke wusste ich es: Sie hatte den Stein behalten, der schwer auf meiner Fantasie gelegen hatte.