Hermann Hesse (1877 – 1962) wird seit Jahren immer wieder als der im Ausland am meisten gelesene deutsche Schriftsteller genannt. Woher kommt das? Ist er ein Lehrmeister der Menschlichkeit, ein Vorbild an Harmonie, ein Maßstab für andere Menschen? Wohl kaum! Eher mag es daran liegen, dass er sich als Mensch mit seinen Stärken und Schwächen darstellt, ohne sie zu beschönigen, und dass er Ideen ausstrahlt in Richtung auf mehr Harmonie in dieser Welt.
Aus seinen vielfältigen Werken ist im Suhrkamp-Verlag das Lesebuch „Die Einheit hinter den Gegensätzen“ (1986) zusammengestellt worden, aus dem hier im Folgenden überwiegend zitiert wird (auch schon bei Müller-Merbach 1987).
Zerrissenheit
Hermann Hesse stellt sich selbst als einen Menschen dar, der zwischen verschiedenen psychischen Zuständen hin- und herschwankt, also nicht wie eine starre, unbewegliche Eiche, die sich von keinem Wind biegen lässt, sondern eher wie schwankender Bambus, der je nach Windeinfluss nach links, rechts, vorn oder hinten gebogen wird.Ein Mensch wie Hermann Hesse ist Stimmungen unterworfen und steht nicht unbewegt wie ein Fels in der Brandung, wie etwa Marc Aurel (121 – 180), der Stoiker und römische Kaiser formuliert: „Der Klippe gleich sein, an der sich ständig die Wogen brechen. Sie aber steht unerschüttert, und die sie umtobende See sinkt in Schlummer.“
Hermann Hesse bekennt sich zu seinem Wankelmut: „Ach, und nun stand ich wieder einmal so völlig außerhalb der Einheit, war ein vereinzeltes, leidendes, hassendes, feindliches Ich. Auch andre waren das, gewiß, ich stand damit nicht allein, es gab eine Menge von Menschen, deren ganzes Leben ein Kampf, ein kriegerisches Sichbehaupten des Ich gegen die Umwelt war, welchen der Gedanke der Einheit, der Liebe, der Harmonie unbekannt war und fremd, töricht und schwächlich erschienen wäre, ja, die ganze praktische Durchschnittsreligion des modernen Menschen bestand in einem Verherrlichen des Ich und seines Kampfes. Aber in diesem Ichgefühl und Kampf sich wohlzufühlen, war nur den Naiven möglich, den starken, ungebrochenen Naturwesen; den Wissenden, den in Leiden sehend Gewordnen, den in Leiden differenziert Gewordnen war es verboten, in diesem Kampfe ihr Glück zu finden, ihnen war Glück nur denkbar im Hingeben des Ich, im Erleben der Einheit …“
Hermann Hesse geht es um das Zurechtfinden des Einzelnen in dieser Welt, nämlich um das Ich als Teil der Ganzheiten und um die Ganzheiten, in die man sich einfügen muss: „Ich glaube an nichts in der Welt so tief, keine andere Vorstellung ist mir so heilig wie die der Einheit, die Vorstellung, daß das Ganze der Welt eine göttliche Einheit ist und daß alles Leiden, alles Böse nur darin besteht, daß wir einzelne uns nicht mehr als unlösbare Teile des Ganzen empfinden, daß das Ich sich zu wichtig nimmt“.